Am nächsten Morgen war das Wetter immer noch trüb und grau. Während in Landau malerischer Altweibersommer herrschte, hatte sich in Wien grässliches Novemberwetter ein paar Wochen zu früh eingeschlichen. Morell, der auf dem Weg zum Archäologiezentrum war, schauderte. Er konnte dem berühmten morbiden Wiener Charme, von dem so viele Menschen schwärmten, nichts abgewinnen. Viele hielten es für ein Klischee, aber in seinen Augen war Wien tatsächlich eine Stadt, in der das Sterben besungen und dem Tod gehuldigt wurde. Nicht umsonst war eine der Hauptsehenswürdigkeiten der Zentralfriedhof. Und wo sonst herrschte so reger Leichentourismus wie hier? Leute pilgerten durch die Stadt, um die Überreste der Habsburger zu besichtigen, die in ganz Wien verstreut lagen: die Herzen in der Augustinerkirche, der Rest der Eingeweide im Stephansdom und die einbalsamierten Körper in der Kapuzinerkirche. Menschen bezahlten Geld, um sich die Knochenberge unter der Michaelerkirche anzusehen, und standen Schlange, wenn das Bestattungsmuseum – übrigens das größte auf der ganzen Welt – Probeliegen im Sarg anbot.
Das Archäologiezentrum der Universität Wien befand sich nicht im Hauptgebäude am Ring, sondern in einem schönen Altbau am Rand des Währinger Parks. Früher hatte das Gebäude einmal die Hochschule für Welthandel beherbergt, jetzt aber bot es den archäologischen Instituten ein Zuhause. Morell wollte sich im Institut für Ur- und Frühgeschichte, der Wirkungsstätte von Novak und Lorentz, ein bisschen umsehen. Sehr zu seinem Leidwesen befand sich das Institut im dritten Stock, und der Aufzug war ausschließlich den Uni-Angestellten vorbehalten – er war also wohl oder übel gezwungen, die Treppe zu nehmen. Oben angekommen, musste er sich schwitzend und keuchend hinsetzen und schwor sich, so bald wie möglich etwas für seine Kondition zu tun.
Als er wieder zu Atem gekommen war, fing er an, sich unauffällig umzusehen: Langsam schlenderte er durch den Flur und kam gleich an einer polizeilich versiegelten Tür vorbei. Das übertrieben große Namensschild daran stellte unmissverständlich klar, dass es sich hierbei um das Büro des ermordeten Professors handelte. Morell hätte sich nur zu gern den Tatort angesehen, aber selbst wenn er jemanden fand, der den passenden Schlüssel besaß, war immer noch die Versiegelung im Weg. Sie zu brechen, konnte er sich nicht erlauben, denn wenn Weber das erfuhr, würde er mit Freuden ein Disziplinarverfahren gegen ihn einleiten.
(S. 43, 44.)
© 2011 Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main