Leseprobe:
Die Hosen hatten Löcher, die Jacken hatten Risse am Rücken und einen zur Hälfte abgerissenen Ärmel. Die Auslagengestalter hatten sich, dem Konzept von Spatz folgend, an der Realität orientiert, also an der Kleidung der demontierten Mittelschicht, die ihre soziale Demontage in einem Fetzenkult feierte, den die Auslagengestalter zur eigenen Freude noch übertrieben, so dass sie einen schönen Vormittag hatten. Sie waren schon zu Mittag fertig und beschlossen, die Arbeit am dritten Schaufenster, die für morgen geplant war, heute noch zu beginnen.
Anna brachte von einem Automaten, zu dem nur Angestellte Zutritt hatten, Kaffee, inzwischen waren Spatz und Montefiori in den Keller gegangen, wo sie einen kleinen Bereich als ihre Arbeitsstätte eingerichtet hatten. Sie legten mehrere Bögen Papier nebeneinander, bis eine Größe erreicht war, die der Fläche eines ganzen Schaufensters entsprach. Anna verteilte die Kaffeebecher, die drei standen um die Papierbögen herum, welche noch zusammengeklebt werden mussten, und überlegten, wie die Schrift in welcher Schriftart platziert werden sollte.
Spatz schlug die lateinische Schönschrift vor, wie Kinder sie in der Volksschule lernen. Er gab eine Probe, indem er die Wörter Ein weiser Mann auf ein Blatt Papier schrieb. Kann es sich nicht, fragte Anna, um eine weise Frau gehandelt haben? Spatz nickte nachdenklich. Er nahm einen neuen Bogen Papier und schrieb, links oben beginnend:
Ein weiser Mann hat viele Jahrhunderte
vor Christus gesagt,
so etwas, wie die Menschheit in Ruhe lassen,
gibt es.
Aber so etwas,
wie die Menschheit regieren,
gibt es nicht.
Oscar Wilde
Wir haben das ganze Schaufenster für uns, wohin platzieren wir den Text? Spatz stellte sich vor die Papierbögen und überlegte. Links oben, dort, wo man zu schreiben beginnt, sagte er, das wäre mir am liebsten.
Dann bleibt eine riesige leere Fläche, sagte Anna. Nein, erwiderte Spatz, wir denken uns noch ein, zwei Sätze aus. Nein, sagte Montefiori, ich weiß einen Satz von Sartre: Vielleicht gibt es schönere Zeiten; aber diese ist die unsere. Wunderbar, rief Anna; Sartre, das war doch der Franzose, der als Philosoph begann und als Kommunist endete. Er war ein mutiger Mann. Und, ergänzte Montefiori, er hat einen so schönen Satz geschrieben.
Niemand hatte ihm zugehört. Spatz hatte links oben begonnen, den Text von Oscar Wilde auf das riesige Plakat zu schreiben, Anna schaute ihm zu. Als er fertig war, gab er Montefiori den schwarzen Filzstift. Der schrieb rechts unten den Satz von Sartre, so gut er konnte, in einfacher Druckschrift. Zwischen den beiden Schriften, sagte Anna, liegen Jahrtausende. Aber auch, erwiderte Spatz, zwischen den Sätzen von Wilde und Sartre.
Die Männer rollten die Papierbögen zusammen, trugen sie ins Erdgeschoss und befestigten sie im Schaufenster. Anna war im Keller geblieben, um zu telefonieren. Die Arbeit war beendet, die Männer nickten einander zu, jedoch alles andere als zufrieden. Morgen um sieben Uhr früh, sagte Spatz, noch bevor das Kaufhaus öffnet, entferne ich die Vorhänge. Dann sind wir der Öffentlichkeit preisgegeben. Da bin ich dabei, sagte Montefiori. Willst du dir nicht eine Pause gönnen?, fragte Spatz. Nicht zur falschen Zeit, antwortete Montefiori.
(S. 158-159)
© 2020 Suhrkamp Verlag Berlin