Leseprobe:
Ich lag auf der Pritsche und meine Gedanken glichen einem nordenglischen Bergwerk post 1984, nachdem Thatcher kurzen Prozess mit der englischen Arbeiterklasse gemacht hatte. Gähnende Leere und kein Ausweg aus einem Gewirr von Stollen, deren Sinn verloren gegangen war. Ich konnte mich an einen Fraktionskampf innerhalb von Farids Gruppe erinnern, in dessen Verlauf einzelne Mitglieder Beruhigungsmittel hatten nehmen müssen, um den psychischen Druck zu ertragen, der durch endlose Anträge auf Mitgliederversammlungen und das Mobbing der „Mehrheitsfraktion“ ausgeübt worden war. Es war darum gegangen, ob man die Selbstmordattentäter der zweiten Intifada verurteilen oder - kritisch, aber solidarisch – unterstützen sollte. Wohlgemerkt war niemand unserer Genossen jemals dort gewesen, wo die Bomben explodiert waren, oder kannte auch nur jemanden, der etwas aus erster Hand dazu hatte sagen können. Wir hatten auch keinerlei Einfluss in der Region oder gar eine Schwesternpartei, die von unserer Unterstützung profitiert hätte. Aber wir brauchten eine Position. Sabernik, den wir damals alle nur den „roten Peter“ nannten, war vorn dabei. In der Verteidigung der Attentäter als antiimperialistische Avantgarde ebenso wie beim Schlechtreden der Genossen, die eine andere Meinung zu diesem Thema hatten. Ich hätte mir schon damals denken können, dass es Sabernik weniger um die abstrakte Position der Kleinstgruppe ging als vielmehr um ein „Training on the Job“. Aber ich war naiv gewesen und hatte geglaubt, einen ehrlichen Revolutionär vor mir zu haben, der besonders radikale Positionen vertrat, weil er seinen großbürgerlichen Hintergrund hatte abschütteln wollen. Was für eine Scheiße. Ich hatte offensichtlich nicht richtig eingeschätzt, wozu Peter fähig war, wenn er es sich am längeren Hebel gemütlich gemacht hatte. Ich konnte nur froh sein, dass ich meine politischen Ideen nicht mit ihm und seinesgleichen durchsetzen konnte. Dass mit unserer langfristig angelegten, unaufgeregten politischen Arbeit kein Staat zu machen war, hatte er früher kapiert als ich. Peter war nicht deshalb besonders radikal gewesen, weil er uns davon überzeugen wollte, dass er sein Tiroler Jagdschlossmilieu wirklich verraten hatte. Nein, er wusste mit Sicherheit, dass ihm seine Klasse die wilde Jugend ohne Probleme verzeihen würde, wenn er nur Jus fertig studierte.
Das diffuse Licht der Sonne verschwand langsam hinter den Milchglasscheiben meiner Zelle. Noch immer war kein Geräusch zu hören, das meinen inneren Monolog hätte bremsen können. Keine Mithäftlinge. Keine Wärter. Tausend Fragen. Hatte Frankenberg Farid umgebracht, so wie er es angedeutet hatte, bevor er damit beschäftigt war zu verrecken? Warum? Was brachte ihm der Tod eines sozial inkompetenten isolierten Linksradikalen? Frankenberg hatte auf mich bei allem Wahnsinn, den er verzapfte, keinen unüberlegten Eindruck gemacht. Kein Typ für Kurzschlussreaktionen. Jemand, der sich an seine Pläne hielt. Je mehr ich darüber nachdachte, desto eher erschien mir Frankenberg wie ein Soldat. Sein Auftreten als pathetischer Messias der völkischen Bewegung stand im deutlichen Widerspruch zu seiner eiskalten, aber ruhigen Art, in der er mir meine Optionen dargelegt hatte. Nicht, dass es viele Optionen für mich gegeben hätte, aber immerhin hatte er Rudi an der kurzen Leine gehalten, als der meine Einzelteile seinem Donnergott hatte opfern wollen. Aber wenn Frankenberg ein Soldat war, wer war sein General? Sabernik? Der rote Peter? Hier begannen sich meine Gedanken im Kreis zu drehen.
(S. 119-121)
© 2014 Zaglossus Verlag, Wien