(S. 236 f)
"Das Schwere ist, daß der Mensch Gefühle nicht nur hat, sondern auch weiß, daß es Gefühle sind, und daß er diese Gefühle in ein Verhältnis setzt zur Vergangenheit, zu gewissen Dingen, die irgendwann vorgefallen sind. Sie sind Teil des Tages, aber doch lebensfähiger als ein Moment, weniger gebunden an die Zeit der Uhren. Man empfindet auch, wenn man an etwas denkt, das Jahre zurückliegt.
Er dreht sich zurück zur Station. Wenn nicht bald etwas entschieden wird aufzuhören, muß endlich ein zentraler Zugang gelegt werden. Neben vielen anderen Problemen wirken sich vor allem die peripheren Zugänge ungünstig aus. Das größte Problem: Der Sekundenzeiger – der trottet stur voran. Zeit vergeht. Schlimmer: Zeit ist vergangen, fünfzig Minuten, die sich auf eine so unwirkliche Weise ereignet haben, daß man das Unwirkliche daran fast gar nicht spürt.
Die Spieluhr wird aufgezogen. Alle Jahre wieder. Das dauert zum Glück immer nur ein bis zwei Minuten. Noch einmal klimpert das Liedchen über die Walze. Wenn man's genau nimmt, der Kardiologe hat recht, es stimmt, das arme Kind kommt noch ganz durcheinander. Die Schwester geht weg, wenig später kommt sie mit der Flasche zurück. Das Gitter wird hinuntergeschoben, das Kind herausgenommen. Die Schwester setzt sich in einen Liegestuhl, der zum Stillen gedacht ist. Sie stellt ihre Füße auf ein Stockerl, nimmt die Kleine auf den Schoß. Sie sagt "Hase" zu dem Kind. Es freut sich und trinkt. Zwischendurch holt es tief Luft. Die aktuellen Blutwerte des Zwölfjährigen, Sauerstoffsättigung, Blutzucker, pH-Wert, Laktat, werden Pichler gezeigt. Der Chef ist weiterhin am Gang. Die Werte sind unverändert pathologisch, aber das Kalium ist erstaunlicherweise nur 4, das ist niedrig. Der pH-Wert hat sich gebessert. Gestiegen auf 7,2. Der Blutzucker allerdings ist in den Wolken, da muß man etwas tun. Pichler zieht seinen Taschenrechner, schreibt in eine Kurve. Er sagt: "Wir starten mit dem Insulinperfusor." Eine Schwester spannt die Spritze ein. Sie bittet um Anweisungen für die Einstellung. "Zwei Milliliter pro Sekunde." Zwölf Jahre, fünfunddreißig Kilogramm. Eingewachsener Schmutz an den Knien, Wirbel im Haar, einige Narben, die im kurzen Haar aufblitzen."
© 2007 Carl Hanser Verlag, München u. Wien.