Textprobe:
Eine Welle tiefer, leiser, dann wieder aufbegehrender Verzweiflung, die immer stärker nach oben drängte, sich Bahn brach, heftig, gewaltsam gegen die Dämme ihrer Selbstbeherrschung schlug, hinter denen sie in all den Jahren ihren Zorn, ihren Schmerz, ihre Wut, zurückgehalten hatte. Kurz versuchte Anna, jener bedrohlichen Flut standzuhalten. Sie stand auf, ging ins Haus, wollte sich auf der Flucht vor ihren Gefühlen wie üblich in der Küche, hinter dem Herd verstecken, kochen, ein aufwändiges Abendessen zubereiten, sich ablenken.
Als sie nach dem Kochgeschirr griff, brach der Damm – ein Tsunami an Schmerz, Kummer, Wut überflutete sie. Schluchzend sank sie zu Boden, schlug mit den Fäusten auf die Küchenfliesen, schrie in einer Stimme, die ihr bedrohlich fremd erschien, eher dem Heulen eines Tieres glich als der Stimme eines Menschen, schrie in einer Lautstärke, die sie sich selbst nicht zugetraut hätte, den Schmerz, die Qual, die Wut aus ihrem Herzen. NEIN!!!
Ein furchterregendes, schrilles NEIN hallte durchs Haus, immer wieder, immer lauter, bis sie schließlich in einem Anfall zügelloser, nicht mehr zu beherrschender Wut vom Boden aufstand, ins Wohnzimmer ging, nach dem Hochzeitsfoto griff, das in all den Jahren unbeachtet in einer Ecke der alten Kommode gestanden hatte, den Rahmen gegen die Wand schmetterte, mit dem Fuß gegen die Scherben, das Foto, die Splitter trat.
Ein Teil der Stuckatur der Wandverzierung brach ab, fiel zu Boden, die Glastür der Kommode sprang durch den Aufprall des Rahmens entzwei.
Ihre Strümpfe waren zerrissen, die Zehen ihres linken Fußes bluteten.
Der Damm war gebrochen, Anna ließ sich aufs Sofa fallen. Eine endlose Flut an Tränen brach aus ihr hervor.
(S. 178f)
© 2015 Ibera Verlag, Wien