Leseprobe:
Aljonkas Augen
Nein. So hatte Laura sich das nicht vorgestellt. Vor ihrer Abreise hatte sie noch gelacht, über die bösen Märchen, die vom Ort ihrer Ankunft erzählten. Viele der Ausgewanderten hatten vom Anhalten der Versorgungskrise berichtet, von halbverhungerten Klischees auf zwei Beinen, die sämtliche Supermärkte der Stadt gestürmt und das Erbeutete pyramidenförmig in die Speisekammern ihrer kommunalkas eingeschlichtet haben sollen – nicht anders als Nachkriegsrentner, die in den Enddärmen ihrer Wohnungen Haltbares horten. Als ob man sich mit Konserven gegen einen kommenden Krieg oder das, was in der Erinnerung davon übrig geblieben ist, wappnen könne. Gelacht hatte Laura, irritiert von Erzählungen wie dieser und zugleich aus Protest gegen sie. Ihr Lachen war fehl. Über jede mit Konservierungsstoffen versetze Pfirsichhälfte, jede Dose mit Thunfisch oder Bohnen wäre sie jetzt froh, nichts als Schokolade auf Vorrat, zwanzig Tafeln Edelbitter, aus Russland importiert. Kann Spuren von Nüssen enthalten, steht auf der Lasche, die man öffnen muss, um zur braunen Masse aus Kakao und Zucker hinter dem Kindskopf zu gelangen, auf jeder Tafel dasselbe pausbäckige Mädchen mit dem bunt gemusterten Kopftuch und den zu weit aufgerissenen Augen, den Blick auf einen Punkt gerichtet, von dem aus man die Erde nicht aus den Angeln hebt, sie nicht einmal erkennen kann.
© 2016 Drava Verlag, Klagenfurt