Leseprobe:
Im Rahmen einer tatsächlichen Zusammenfassung der
Ereignisse sollte es später übrigens heißen, die MesserÂ
attacke des Mannes sei gar nicht geplant gewesen, sondern
müsse, so der Attentäter im Verlauf eines Verhörs, darauf
zurückgeführt werden, dass er bei der Aufforderung, seinen
Rucksack zu öffnen, schlicht die Nerven verloren habe. Das
eigentliche Ziel, das er sich mit einer, wie ihm ein JourÂ-
nalist in der Folge attestieren würde, geradezu diabolischen
Gewitztheit gesteckt hatte, habe, so der Gewalttäter, darin
bestanden, eines der Gemälde in den Schausälen des Mu-
seums mit Farbe aus einer mitgebrachten Sprühdose zu
verunstalten. Befragt nach den Motiven hinter einer derart
absurden Aktion, die der Öffentlichkeit unverhältnismäßig
harmloser erscheinen musste als die Messerattacke auf einen
Menschen – wiewohl sich in der Folge Leute in Postings
und Tweets zu Wort melden sollten, die meinten, man hätÂ-
te ebenso auf ihn schießen müssen, sofern er sich an einem
der wertvollen Gemälde vergriffen hätte (Gemälde, versteht
sich, die sie noch gar nie zu Gesicht bekommen hatten)
–, würde der Attentäter später zu Protokoll geben, er habe
vorgehabt, ein Bild religiösen Inhalts zu zerstören, weil es
sich dabei in seinen Augen um den Kultgegenstand einer
Irrlehre handle. Damit nicht genug, so der Mann im An-Â
schluss an seine gescheiterte Tat: Ihrer seit jeher abwegigen
spirituellen Kraft endgültig beraubt, hätten diese MachÂ-
werke – die Bilder – schließlich ihren Weg in einen Tempel
westlicher Dekadenz gefunden, wo sie gegen Geld besich-Â
tigt werden könnten. Für ihn, den Attentäter, Ausdruck
der vollständigen Verblendung des Westens, im Grunde
wohl nur einer kleinen Schicht daselbst, der es jedoch geÂ-
linge, die große Mehrheit für dumm zu verkaufen. Dieser
Dummheit habe er mit seiner Aktion einen Denkzettel verÂ-
passen wollen, wofür ihm eine nicht unwesentliche Anzahl
an Menschen in diesem Land – so seine Meinung – früher
oder später sogar dankbar gewesen wäre.
Dieser Form von Rechtfertigung bald überdrüssig, sollÂ
ten sich die Berichterstatter schließlich eher dafür interesÂ-
sieren, welches Bild der Attentäter für seinen ZerstörungsÂ-
akt ausgewählt hatte. Er habe sich, so der Mann laut Me-Â
dien, bis zuletzt noch nicht endgültig entschieden gehabt,
ob es Raffaels Madonna im Grünen werden würde oder
Caravaggios Rosenkranzmadonna. In beiden Fällen MeisterÂ-
werke – das die Meinung der Medien, nicht des Attentäters
– und Darstellungen der Mutter Gottes, worin angedeutet
lag, dass er, dessen Namen die Sicherheitsbehörden spä-
ter mit Hussein Y. angaben, dass also Hussein Y. sich im
Vorfeld des von ihm geplanten Anschlags eingehend mit
der Sammlung dieses Museums auseinandergesetzt haben
musste.
Ob nun die Madonna im Grünen oder die mit dem
Rosenkranz, hätte Hussein Y. erst vor Ort entschieden, je
nachdem, welches der beiden Bilder von ihm in einer SiÂ-
tuation angetroffen worden wäre, die ihm mehr Zeit für
das Anbringen seiner Verunstaltungen in Aussicht gestellt
hätte. Im Idealfall – Hussein Y. soll, würde es später heiÂ-
ßen, tatsächlich von einem Idealfall gesprochen haben –
hätte er sich, wäre ein Bild erst einmal beschmiert geÂ-
wesen, auch noch über das andere hergemacht. Auf alle
Fälle seien seine Motive – das sollte vom Attentäter im
Nachhinein mehrfach betont werden – ausschließlich reÂ-
ligiöser und nicht etwa ästhetischer Natur gewesen. Das
Messer, würde Hussein Y., vom Staatsanwalt zur Rede geÂ-
stellt, antworten, habe er mitgebracht, um sich, hätte er
erstmal eines oder vielleicht sogar beide Gemälde seiner
Behandlung unterzogen, einen Weg aus dem Museum zu
bahnen. Seiner Einschätzung nach hätten ihm die meisten
Menschen – die Museumsaufseher inbegriffen – bereits
beim bloßen Anblick dieser Waffe (übrigens ein Fabrikat
aus der Schweiz mit einem Griff aus Kirschbaumholz, kein
Krummschwert, wie jemand zu diesem Zeitpunkt schon
zu Protokoll gegeben haben würde) den Weg freigemacht.
Wir, so viel steht für mich fest, hätten das in jedem
Fall getan. Ich wäre wahrscheinlich bereits vor einer auf
mich gerichteten Farbspraydose in Deckung gegangen –
und das, obwohl ich kein Gemälde bin. Anders als die zwei
größeren Kinder in unserer Gruppe, die weiterhin damit
zu spekulieren schienen, in einer der Bildlandschaften
unterzutauchen, etwa um sich von einem riesigen Vogel
wegtragen zu lassen (Iggy angesichts einer Darstellung der
Entführung des Ganymed von der Hand Correggios) oder
auf dem Rücken eines Pferdes Richtung Bildhintergrund
zu entschwinden (Emily, als sie das herrenlose Pferd des
heruntergefallenen Saulus auf einem Gemälde von ParÂ-
migianino sah), anders als diese zwei Kinder ertappte ich
mich in Anbetracht einzelner Gemälde in ihren monströ-Â
sen, teils vergoldeten Rahmen bei dem Gedanken, ob wir
uns nicht bis auf Weiteres hinter einem solchen Rahmen
verstecken könnten. Als handle es sich dabei um eine Türe
in eine Welt zwischen der realen, die im Begriff war, uns in
die Flucht zu schlagen, und einer fiktiven, die vorübergeÂ
hend Schutz zu bieten schien. Selbstverständlich verfiel ich
nicht in den naiven Glauben, der aus Fantasie und ÄstheÂ
tik gebaute Darstellungsraum der Bilder stelle eine AlterÂ
native zur Wirklichkeit dar. Und das, obwohl ich damals
gar nicht wissen konnte, dass der Attentäter es ja gerade
auf die Bilder abgesehen hatte. Nicht auszudenken, wenn
er ausgerechnet auf ein Gemälde losgegangen wäre, hinter
dessen Rahmen Wanda, ich und die Kinder uns verborgen
hätten.
(S. 42-44)
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