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Dann waren sie doch alle gekommen. Auch aus den Siedlungen. Viele hatte Susa schon lang nicht mehr gesehen. Der alte Schöllauf kam in Trachtenjacke und kariertem Hemd darunter, das über seinem Bauch spannte. Hinter ihm seine Frau, ihre Hände glänzten hellgolden und schwer in der Sonne. Der Hirsch-Neffe war bereits betrunken, sein Gesicht rot angelaufen. Wie bei den Alten. Wenn Susa langweilig ist, stellt sie sich manchmal vor, wie andere Menschen sterben werden und wann, und beim Hirsch-Neffen wird es ein Unfall sein, da ist sie sich sicher. Zu Hause wahrscheinlich. Er wird in der Dusche ausrutschen oder sich bei der Gartenarbeit verletzen, ein Loch im Schädel.
Die Winters kamen wie üblich alle zusammen. Der Polizist setzte sich allein an einen Tisch und nippte an seinem Bier. Er hatte seinen Dienstpullover ausgezogen und machte einen Knopf an seinem Hemd immer wieder auf und zu. Am Vortag hatte er Susa erzählt, dass man jetzt auf Martins Blutproben wartete. Die Behörde aus der Bezirkshauptstadt hätte den Fall übernommen und untersuche noch das Auto und die Unfallstelle.
"Da macht man das Fenster auf und denkt sich: Huch, da war ja was." Das hörte sie den Regionalmanager, heute in einem Hemd mit merkwürdigem Schnörkelmuster, zum Bürgermeister sagen. Dann kamen die beiden Fenninger-Schwestern und setzten sich direkt nebeneinander, ihrer Mutter gegenüber. Die kleinere, Teresa, schaute immer wieder zum Bürgermeister und Regionalmanager rüber, Esther saß auf ihren Händen und schaute ins Leere.
"Das habe ich schon immer gesagt, dass man den Blintelmann nicht stören darf", sagte Wenisch zu Susa, als er sein Bier bestellte.
Susa nickte teilnahmslos. Die Blintelmann-Geschichte hat sie noch nie interessiert. Und noch weniger, welche der beiden Erzählweisen der Sage nun die richtige war, worüber sich Wenisch bis jetzt jedes Jahr mit den anderen am Blintelfest gestritten hatte. Wenisch wartete nicht auf ihre Antwort, sondern nahm sein Bier, setzte sich an einen der Tische und starrte auf den Berg. Wenisch wird irgendwann einfach vergessen zu essen oder zu schlafen oder zu trinken, dann wegsterben.
Martins Mutter trug Schwarz. Alles an ihr schien in einer einzigen Wickelbewegung eingerollt zu sein: Ihr Kleid, der Schal, der im Nacken gedrehte Dutt. Alle schauten sie an.
Was für eine dumme Idee, die Kapelle abzubestellen, dachte Susa. Bevor sie ins ESPRESSO das Fass holen ging, hatte sie sich sicherheitshalber noch das Radio aufgedreht.
Und dann das. Einen Moment ist Susa nicht da.
Esther schreit.
"Umgebracht habt ihr ihn!"
Dann Stille.
"Umgebracht habt ihr ihn! Und jetzt ist er tot!"
"Scheißtot ist er jetzt!"
Als Susa wieder nach draußen tritt, zittert Esther am ganzen Körper. Wie eine Verrückte schreit sie. Ihr kleines Gesicht zu einer Fratze verzogen. Wie hässlich Menschen aussehen, wenn sie weinen. Teresa hält ihre Schwester mit beiden Händen fest. Jetzt hört man das Radio wieder. Und die Vögel, und alles andere auch.
Wäre nur die Kapelle da.
Susa zündet sich eine Zigarette an.
(S. 66 – 68)
© 2018 Luchterhand Literaturverlag, München