Eine poetische Spekulation.
Nachwort: Hermann Knoflacher.
Illustrationen Lisa Kröll.
Wien: Edition Splitter, 2018.
80 Seiten; geb.; Euro 18,-.
ISBN 978-3-9504404-4-7.
Autor
Leseprobe
Absolute Immanenz: Eine poetische Spekulation
Der Zustand, von dem hier die Rede ist – der "Sekundenbruch" – dieser Zustand trägt im fünfundsiebzig Seiten starken Text von Walter Kreuz unzählige Namen: Von einem "radikalen Stillstand" wird gesprochen, einem "Warten, Warten, Warten". Der Sekundenbruch ist zugleich "stille Rebellion" und "Demonstration", ein "Rendezvous mit der Umgebung". Es scheint, als würde uns dieser Bruch ununterbrochen widersprechen, haben wir uns einmal auf eine Definition festgelegt, entwischt er uns aufs Neue. Aber was ist er nun? Ist er positiv, oder doch negativ behaftet? Wie sollen wir ihn einordnen? Ist er gar ein politischer Akt? Und was genau passiert hier eigentlich auf Straße 4?
Die poetische Spekulation, wie Kreuz seine Textgattung benennt, setzt damit ein, dass in einer Stadt Menschen auf der Straße 4 aus ihren Häusern treten. Doch etwas ist anders, unerwartet. Nicht nur für die Menschen, sondern auch für uns, die Lesenden. Langsam überschreiten wir im ersten Kapitel "Der Schritt" zusammen mit ihnen die Schwelle in eine seltsame Welt, eine Welt, in der alles gleich wichtig, gleich belanglos ist, in der sich Männer, Frauen, Alte, Junge für einen Bruchteil der Zeit – den wahrzunehmen man doch unter normalen Umständen gar nicht in der Lage ist – nicht mehr um ihre gesellschaftlichen Funktionen kümmern. Der Sekundenbruch, wie ihn Kreuz in diesem relativ kurzen Text inszeniert, ist ein Zustand absoluter Immanenz. Die Menschen sind mit dem Schritt ins Freie auf einmal selbst frei, ihre Aufmerksamkeit fast animalisch instinktiv. Ihr Interesse wird dabei verstreut, willkürlich und unmittelbar auf Dinge gelenkt, auf eine nietzscheanisch anmutende Reise jenseits aller Wert- und Moralvorstellungen geschickt. Sie treten aus der Zeit hinaus, hinein in die Welt der Wahrnehmungen und plötzlich wird es möglich, eine Hand, eine Hausmauer, den Straßenbelag unendlich lange zu begutachten, alle Sinne darauf zu lenken. Sie kommen von nirgendwo und überall und vor allem aber machen sie sich darüber keine Gedanken. So mutet es fast komisch an, als sich in die anonyme Masse der Stehenden, Sitzenden, Lehnenden, Liegenden auf einmal Namen mischen: Marie-Susanne T. und Jeremias S. etwa, die im Auftrag der Firma Revitalität gmbh mit der Altstadtrenovierung beginnen wollen. Dabei werden sie und ihre Lastwägen von den Menschen auf Straße 4 blockiert und sind verunsichert. Was nun? In handgeschriebenen Arbeitsprotokollen, vom restlichen Text deutlich abgesetzt, berichten sie von ihrem Dilemma. Doch bevor sie noch Schritte gegen die Masse der von der Wahrnehmung Überwältigten einleiten können, endet der Spuk bereits und die Zeit scheint weiter zu laufen. So wie es zuvor war, wird es für die meisten Menschen in Straße 4 aber nie wieder sein.
Walter Kreuz spielt sein Spiel der Sprache gut, er will und muss schließlich die Sprache laufen, fließen und tönen lassen. Ohne Zweifel ist er selbst auch ein Stehender, Sitzender, Schauender, Tastender und so ist auch diese in der Edition Splitter erschienene Spekulation zu lesen, zu schauen, die Stille darin beinahe zu hören. Die Sprache, die er für die Beschreibung des Sekundenbruches einfach und neutral hält, ist bei ihm bloßes Mittel und wird von sämtlichen Komponenten des Textes unterstrichen und ergänzt. Handgeschriebene Arbeitsprotokolle, Grafiken von Lisa Kröll und weitere vom Fließtext abgetrennte Passagen ergeben eine von Kreuz gezeichnete eigene Welt. Er spielt uns seinen Blick auf die Stadt zu und überlässt es der Phantasie der Lesenden, was sie am Ende daraus machen. Schreibt er von dem Bruch in der Zeit als eine "bestimmte Form von Innehalten", ist es sicherlich kein Zufall, dass in uns die Assoziation zur Meditation geweckt wird. Damit ist eine performative Präsentation des Buches keine Ergänzung, sondern die logische Folge von Kreuz' Zugang zur Welt. Und der Sekundenbruch vielleicht wirklich als politischer Akt zu sehen, wie es auch Hermann Knoflacher im Nachwort vorschlägt: Als Sichtbarmachung der Schnelllebigkeit unserer Welt, als Nullpunkt unserer verkehrten Moralvorstellungen und als neuer Blickwinkel auf die Stadt. Auch Knoflacher pocht auf das Innehalten in der Gegenwart, in diesem einen Bruchteil der Sekunde, denn: "In dem Ausmaß, in dem die Zeit dafür fehlt, verlieren wir auch die Optionen für die Zukunft – und uns selbst. Ein Sekundenbruch kann da eine Hilfe sein."
Unklar bleibt dennoch vieles: Ist die Renovierungsfirma als Hinweis darauf zu verstehen, dass die Menschen ununterbrochen nach Optimierung streben? Oder stellt Kreuz sie bloß als nicht vom Sekundenbruch Betroffene den Menschen auf Straße 4 entgegen? Warum ist die Straße nicht auf Stadtplänen für Touristen verzeichnet und doch offenbar Teil der Altstadtrenovierung? Bemüht überschneidet Kreuz viele Ebenen in seinem Text, womöglich zu viele angesichts seiner Kürze. Da ist die politische, die philosophische, die gesellschaftskritische, die wissenschaftliche – gewürzt mit einer nicht immer ganz nachvollziehbaren Handlung. Vielleicht löst die performative Ebene all dies auf, für das Buch gilt aber: Der Sekundenbruch ist am Ende das, was der oder die Lesende daraus macht.