Leseprobe:
/ sichtbar werden /
Die Szene ist von einer unschuldigen Intimität: Kurz
bevor die kleine Reiseagentur Tangol, die Stadttouren
und Tangoshows an Touristen verkauft, morgens um
zehn Uhr öffnen wird, hängt ein Junge sich an die La-
dengitter und spiegelt sich im Auslagenfenster. Er be-
wegt Kopf, Oberkörper, Arme und Hüften und sieht
sich in der Scheibe dabei zu, er imitiert seine eigenen
Gesten, sodass sich eine fortlaufende Wiederholung
von Geste und Spiegelung ergibt, eine unausgesetzte
Bewegung, die bald nicht mehr unterscheiden lässt, ob
der Junge oder sein Spiegelbild die Gesten vorgeben, wo
das Reale anfängt und wo es aufhört, indem es zur Si-
mulation wird, zu einer Verdoppelung, die zugleich
eine Vereinzelung ist, eine radikale Vereinzelung, die
den Jungen so in sein zweites Gesicht eingehen lässt,
dass er sich ihm zur Gänze überlassen, sich in ihm auf-
lösen und zugleich neu zusammensetzen kann.
Ein paar Minuten später geht der Junge, er geht weiter
und dreht sich dabei in einem fort um, als würde er sei-
nem Spiegelbild nachsehen wollen, das längst von der
Scheibe gelöscht ist und nur im Kopf des Jungen noch
existiert, der es mit sich und über den Tag tragen will,
immer wieder sich danach umschauend, immer wieder
seinen Anfang suchend, nahe der Kreuzung, wo die
Calle Defensa die sechsspurige Avenida Independencia
quert, wo die Straße der Verteidigung auf die der Unab-
hängigkeit trifft, von dort winkt ein Junge der Erinne-
rung an sich selbst, rückt sie in eine Unmittelbarkeit, in
der er bleiben kann, was er eben noch war.
(S. 11f)
© 2019 Jung und Jung, Salzburg und Wien