Leseprobe:
Der Mensch umgibt sich gerne mit den Bildnissen von Tieren, Fabeltieren und tier-menschlichen Mischwesen. Überall in den großen Gärten und Parkanlagen, vor den Palästen und auf den Dächern stehen Pegasusse und Sphinxe‚ Einhörner, Zentauren, Löwen und Greife. In den Brunnen tummeln sich Delphine und Meerjungfrauen, steinerne Vasen werden von steinernen Affen umklammert, gelockte Widder stehen Wache vor Stiegenaufgängen. Auf Friesen umlagern steinerne Jagdhunde erlegte, an den Füßen aufgehängte steinerne Enten. Auf den vornehmeren Jagdwaffen sieht man geschmiedete Tiere, Eberköpfe am Sauspieß oder ein silbernes Affenköpfchen am Pistolenknauf.Die Kirchen werden von Schlangen und Eidechsen und Kröten beschützt. Rinder, Hunde, Ziegendämonen und Löwendrachen dienen als Wasserspeier. Auf den Tapisserien und Tapeten tummeln sich Pfauen, Papageien und Paradiesvögel aller Art. Auf kostbaren Schränken und Stühlen sind im Hochrelief Meeresungeheuer, Schafsköpfchen und Löwentatzen aufgeschnitzt. Jedes Wappen, das etwas auf sich hält, zeigt einen Adler, Löwen, Bären oder wenigstens ein Schaf. Kein Feldherr würde sich in Bronze ohne sein Pferd abbilden lassen. Tauben verkünden den Frieden und den Heiligen Geist. Steinerne Herkulesse erschlagen steinerne Drachen und sind mit einem steinernen Löwenfell umgürtet, dessen Pranke auf dem Oberschenkel liegt. Den Löwen hat Herkules vor dem Drachen erschlagen, er ist nur mehr Kleidungsstück und wirkt doch so, als würde er die Krallen noch in das nackte Fleisch des Helden hineinbohren.Der Mensch hält es nicht aus ohne Tiere, überall will er von ihnen umgeben sein, er tötet sie, um ihnen gleich darauf ein Denkmal zu bauen, er erfindet sie und rottet sie aus.
(S. 102 f)
© 2019, Carl Hanser Verlag, München