Sie wünschte, es wäre ihre letzte Reise. Da, wo sie seit langem wohnte und ihre Arbeit hatte, war es ihr immer wieder neu und abenteuerlich genug. Land und Gegend waren andere als die ihrer Geburt, und sie hatte schon von Kind an in mehreren grundverschiedenen Landstrichen und Ländern gelebt.
Aufgewachsen bei vielreisenden oder eher vagabundierenden Großeltern, die mit jeder Grenze ihre Nationalität zu wechseln schienen, hing sie in der Jugend zeitweise ihrem abwesenden ostdeutschen Geburtsland nach, ihr vertraut aus keinerlei Erinnerung, vielmehr allein aus Erzählungen und später auch Träumen.
Nach einigen Besuchen in jenem Land studierte sie dann teilweise dort, sagen wir, in Dresden oder Leipzig, eine gute Fahrradstunde entfernt von ihrem Geburtsdorf, und in der Folge, einige Länder und zwei oder drei Erdteile danach, wurde sie da, zwei Autostunden weg von ihrem angeblichen, inzwischen abgerissenen und durch einen Neubau ersetzten Geburtshaus, dort sogar für ein paar Jahre ansässig, und arbeitete; damals noch nicht als Bankfrau.
Danach, nach wieder diesem und jenem anderen Land und Kontinent, Arbeiten und zwischendurch auch Vagabundieren, einem von dem einst ihrer Großeltern freichlich verschiedenen - fast immer allein -, verlor die Geburtsgegend sich allmählich, unbemerkt, aus ihrem Sinn; spurlos verschwunden eines Tages aus ihrem Innern das ausgedehnte, großmächtige Deutschland, während von ihrem speziellen, kleinteiligen Deutschland eine Zeitlang wenigstens noch einige Spuren blieben, ein Bach mit den Schatten von Wasserläufern unten im Kieselbett, ein abgeerntetes Maisfeld, aus dessen Furchen die zerhäckselten Blätter aufwirbelten, ein in die steppenkalte Gegend verirrter Maulbeerstrauch.
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© Peter Handke.