"Vielleicht, vielleicht. Ich konnte die Analysemaschine in meinem Kopf nicht stoppen. In einem fort quälte sie mich mit Mutmaßungen und Einsichten, die ich gar nicht haben wollte und zwar nicht nur über Engler und Eisner, sondern über alle, die in meinem Leben einmal eine Rolle gespielt hatten, denn einen anderen Platz war ich auch meiner Mutter nicht einzuräumen bereit. Nicht zuletzt über mich selbst spuckte diese tyrannische Inbstanz meines Kopfes Bilder und Sätze aus, die mich erfassten, für die äußere Wirklichkeit nicht mehr Energie als unbedingt nötig übrig ließen. Dieses Ausgraben und Hineindenken übernahm allmählich die Herrschaft, das sah ich jetzt ganz klar, das war es, was mich dazu brachte, den Anrufbeantworter kaum abzuhören, das Telefon auszuschalten, die Post unbeantwortet liegen zu lassen."
(S. 166)
"Meine Frage, wodurch er sich verändert habe außer durch Bücher, fiel mir wieder ein. Er hatte noch nichts dazu gesagt. Plötzlich hatte ich den Verdacht, dass er es nicht tat, weil er nie darüber nachgedacht hatte. Er, der sein Leben mit Reflexion und Analyse, mit Denken und Definieren, mit dem Entwickeln von Hypothesen verbracht hatte, hatte keinerlei Kategorien, die ihn selbst erfassten. In seiner Logik hätte Selbstreflexion auch gar nichts gebracht, im Gegenteil, sie wäre sogar schädlich gewesen. Sie hätte das beachtliche Tempo, mit dem er Aufsätze, Seminarkonzepte, Vorträge, Dissertationsthemen und Vorlesungsmanuskripte produzierte zum Erliegen gebracht. Sie hätte mit Sicherheit das Gespenst jenes jungen, sprachgewandten SS-Mannes so oft wiedererweckt, den ich mir in den letzten Monaten beim Tippen seiner komplizierten Satzkonstruktion über das Wesen des Germanischen vorgestellt hatte. Er hatte ihn erledigt, einfach, indem er sich nicht in die Lage brachte, an ihn zu denken. Konnte es so einfach gewesen sein?"
(S. 193)
© 2005, Residenz Verlag, Salzburg.
Publikation mit freundlicher Genehmigung des Verlags.