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Leseprobe: Sabine Scholl - "Die geheimen Aufzeichnungen Marinas."

An diesem Punkt habe ich mich dann entschlossen aufzuhören, obwohl der Strom von Informationen, Daten und Geschichten nicht abreißen wollte und im Gegenteil immer dicker wurde, je länger ich im Netz hing, unüberschaubar, die Stunden fraßen sich in den Bildschirm hinein, und obwohl die kleine Uhr am Bildrand mitzählte, bedeuteten die Zahlen nichts mehr, je länger ich suchte, anklickte, kopierte, mich tiefer und tiefer verlor im Gewebe des Netzes. Ich mußte einmal enden, Tage hatte es gebraucht, bis ich das Material über den Drucker in meine Hände bekommen hatte, und nun wollte ich selbst weben, Faden für Faden aufwickeln, klären, neue Knoten setzen und die Stränge einander berühren lassen. Ich nahm mir vor, die Geschichte Malinches fortzuführen, klarzumachen, so daß sie für alle gilt. Bis ich eines Tages erschöpft pausieren mußte, aufstehen vom Schreibtisch, unterbrechen. Den Winter über hatte ich gesessen. Ich hatte die Blätter an den Bäumen sich färben, eintrocknen und abfallen gesehen, ich hatte die ersten Schneeflocken vor meinem Fenster den Himmel füllen gesehen, weiß auf grau, und sie wurden dichter, dicker, fügten sich zur Decke aus Schnee über Dächern, dem Sportplatz, den Gehsteigen und Straßen. Alles wurde still und der Winter war hineingekrochen in immer kältere Tage, der Frost und der Wind brachten mich kaum mehr vors Haus, und ich hatte gesehen, wie die Tropfen von der Rinne stürzten an meiner Fensterscheibe vorbei, immer nach unten, als es endlich taute. Und nun mußte ich einmal fort, um bei der Rückkehr betrachten zu können, was entstanden war in dieser ganzen Zeit. Ich begrüßte den Frühling, trat vors Haus, vertrat mir die Beine, als ein plötzlicher Regen mich in einen Buchhandlung führte, nicht weit von meiner Wohnung. Große Erwartungen, hieß das Geschäft. Ich trat ein und stand gleich vor dem Tisch mit Neuerscheinungen, wollte meinen Blick nur spazieren lassen, nur über die Umschläge, kein Buch in die Hand und in Augenschein nehmen, als mich plötzlich ein Name ansprang, der über dem Titel eines Bandes stad: MALINCHE. Die Buchstaben tanzten, hüpften hin und her, eine Täuschung sicher, entstanden aus Überarbeitung und einer zu hohen Dosis frischer Luft. Die Lettern schienen sich umzustellen, wieder und wieder. Ich sah fort und nun stand LAMENICH auf dem Einband. Ich sah fort und wieder hin, nun war es MACHNIEL, dann AMENCHIL, dann MENACHIL und schließlich LEICHNAM. So war es, Leichnam stand darauf, wo Malinche hätte stehen sollen, oder was? Ich mußte das Buch an mich bringen, es prüfen. Sein Titel lautete: DIE GEHEIMEN AUFZEICHNUNGEN ... Ich griff danach und in diesem Moment erkannte ich, daß die Arbeit meiner letzten Monate auf einen Schlag sinnlos geworden war, verloren. Als ich das Buch aufschlug, bemerkte ich, daß Marina mir zuvorgekommen war. Und meine Geschichte war nun der Leichnam. Ich wollte es wissen. Endlich. Ich begann zu lesen: (S. 254f.)

© 2000, Berlin Verlag, Berlin.
Publikation mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

 

 

 

 

 

 

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