Eldorado nannte sich der im Untertitel als "gutbürgerliche Familienpension, Emilie Bienenstein's Nfg." firmierende kleine Hotelbetrieb im achten Wiener Gemeindebezirk. In den an der Rezeption aufliegenden Prospekten war die Rede von familiärer Atmosphäre und gehobener Hausmannskost (Frühstück und Abendessen) sowie bürgerlichen Preisen - was immer das sein mochte. Daß die einsitzenden Gäste das Haus "Bienenstock" nannten, hatte nichts mit den fleißigen Insekten zu tun, schuld an dem schmückenden Beiwort war einfach der Name der Besitzerin. Emilie Bienenstein war, wie das "Nfg." auf dem in Weiß und Gold gehaltenen Schild auf der Straßenseite anzeigte, bereits verstorben, doch die Nachfolgerin war deren Nichte (von der Bruderseite) und trug den gleichen Familiennamen. Mit Vornamen hieß sie allerdings nicht Emilie, sondern Salome. Diesen ausgefallenenVornamen hatte sich Emiliens Bruder, der übrigens schlicht Franz hieß - er ruhte auch bereits bei seinen Ahnen - für seine einzige Tochter einfallen lassen, möglicherweise wegen seiner marginalen Bibelkenntnisse und einer damit verbundenen Vorliebe für Schleiertänze. Es hatte den biederen Franz seinerzeit arg geschmerzt, daß niemand den exklusiven Vornamen benützen wollte - seine Tochter wurde praktisch von jedermann Sali genannt. Besagte Sali Bienenstein wohnte übrigens nicht in ihrer ererbten Pension. Sie logierte im Haus gegenüber, wo sie sich eine gemütliche Eigentumswohnung gekauft hatte. Diese restaurierte Altbauwohnung teilte sie häufig - und immer kurzfristig - mit wechselnden Bettgenossen. Tischgenossen waren die Herren dann im Speisesaal des Eldorado, wo sie in erwartugsvoller resepektive aufgekratzter Stimmung - je nachdem - das Abendessen beziehungsweise das Frühstück einnahmen, letzeres oft in ziemlich ramponiertem Zustand.
Zu Mittag wurde im "Bienenstock" nicht gekocht, weil berufstätige Menschen ohnehin auswärts zu speisen pflegen, und vor allem, weil die Köchin, eine gewisse Paula Roßkopf, es ausreichen fand, sich "aamal am Tag in da Kuchl abschwitzen" zu müssen. Besagte Paula Roßkopf war so ziemlich das Gegenteil dessen, was man sich unter einer Köchin vorzustellen pflegt: sie war lang und dürr, verschmähte Schürze und Haube und sah für ihre 58 Jahre schon recht "überwuzelt" aus, wie sich Sali Bienenstein angesichts von Paulas Falten und Pigmentflecken auszudrücken beliebte. Viel Bewegung machte die Roßkopf auch nicht. Morgens schlurfte sie mißmutig von ihrem im Souterrain gelegenen Zimmer in die angrenzende Küche, beaufsichtigte die Zubereitung des Frühstücks und verzog sich alsbald wieder in ihr Domizil, in welchem sich auch eine Bibliothek befand. Diese bestand aus annähernd 600 Groschenheften, sämtliche mit "Liebe", "Schicksal" und ähnlichen gefühlsträchtigen Vokabeln im Titel. So gesehen konnte man Paula als belesen bezeichnen, jedenfalls was die Kenntnis des Ärztemilieus und des Hochadels betraf. Des öfteren hatte sie ihrer Nichte Rosa, die als Küchenhilfe im "Bienenstock" werkte, diese bildende Lektüre leihweise angeboten - doch Rosa las nicht. Sie hätte auch kaum Zeit dafür gefunden, denn Tante Paula kommandierte sie herum wie ein Feldwebel und halste ihr alle denkbaren Arbeiten im Zusammenhang mit der Küche auf, vom Gemüseputzen übers Tischdecken und Servieren bis zur Entsorgung des Geschirrs. Rosa - sie hieß mit dem Nachnamen Wlk - kam aus Brünn, wo ein Teil von Paulas Familie immer noch lebte. Die Roßkopf hatte das Mädchen vor drei Jahren nach Wien geholt, "damit sich wo lernt der Trampel aus Brno", wie sie sagte. In Wirklichkeit diente diese barmherzige Geste bloß ihrer eigenen Entlastung. Rosa machte das nichts aus. Sie war jung, kräftig - um nicht zu sagen dick -, sie war willig und arbeitsam und muckte nie auf. Tante Paula hatte richtig spekuliert, als sie von den zahlreichen Kindern ihres Bruders ausgerechnet das jüngste, geistig etwas zu kurz gekommene Mädchen, an ihre Seite rief. Die mentale Kapazität der dicken Rosa reichte gerade noch aus, um gewisse Einkäufe beim Greißler oder Gemüsehändler zu tätigen, denn Deutsch hatte sie in der Schule, trotz ihrer sonstigen Einfalt, recht gut gelernt. (S. 7ff.)
© 1999, Milena, Wien.
Publikation mit freundlicher Genehmigung des Verlags.