EIN VORTEIL der Gleichförmigkeit der Tage ist, daß man nicht an morgen denken muß, glaubt Jakob. Er kann gleich an heute denken, und sogar wenn er an gestern denkt, vergehen die Tage ohne Unterschied. Das Leben geht dahin, und Jakob ist nur sein Begleiter, sein Betrachter, ein Alternder. Kleine Ärgernisse buchten die Geradlinigkeit ein wenig aus, bilden Dellen, die aber zu unbedeutend sind, um die Tage zu strukturieren, ihnen Namen zu geben oder sie gar in die Erinnerung zu drücken.
Es gibt zwar auch manchmal kurzfristige Irritationen in Jakobs festgeknüpfter Kette der Gewohnheiten: der neue Briefträger zum Beispiel, der die Post in Jakobs Gasse Nummer 31 um volle zwei Stunden später bringt. Das sind äußere Umstände, auf die Jakob mit neuen Gewohnheiten reagieren muß. Aber das ist nicht wirklich von Bedeutung, auch wenn man bedenkt, daß ein neuer Briefträger das Leben in ganzen Wohnblocks beeinflussen kann. Man begegnet neuen Menschen, andere verliert man wieder aus den Augen, und das nur aus der Tatsache heraus, daß man zu einer anderen Zeit seinen Briefkasten leert. So können Schicksal und Zufall in einer Briefträgeruniform daherkommen, auch wenn man nur Postwurfsendungen durch den Briefkasten recycelt. Aber die Tigergasse 31 ist nur dreistöckig, mit nur einem Eingang und daher überschaubar; und wenn Jakob jetzt nach dem Mittagessen, wie er es sich seit kurzem angewöhnt hat, wieder zurück nach Hause geht, um die Post zu holen, trifft er, wenn überhaupt, dieselben Mieter wie bisher. (S. 98)
© 1999, Paul Zsolnay Verlag Gesellschaft m. b. H., Wien.
Publikation mit freundlicher Genehmigung des Verlags.