"Mein Gott, das ist ja alles so lange her!" sagte meine Mutter, als ich sie nach der Geschichte mit meinem Vater fragte. Außerdem wolle sie über so eine Sache am Telefon nicht reden.
"Ich schreibe Dir!"
Sie schrieb mir einen sentimentalen Brief, in dem die Rede war von ihrem schwachen Erinnerungsvermögen, Vergessen, Verdrängen, und von ihrem Ehemann, wegen dem sie meinen Vater ganz aus ihrem Leben verbannt hätte.
Im Herbst 1949 ging meine Mutter mit der Familie von Colonel Moullet, Offizier der französischen Besatzungsarmee, als Kindermädchen nach Frankreich. Zwei Dinge waren es, die sie in Frankreich zu finden glaubte: das Abenteuer und die Erfüllung ihrer naiven Sehnsucht nach Liebe. Das Angebot war einzigartig. Eine Chance, an die keine ihrer Altersgenossinnen im Dorf jemals auch nur zu denken gewagt hätte. Paris. Die Befürchtungen ihrer Eltern waren natürlich groß, trennten Paris doch Welten von daheim. Trotzdem ließen sie ihr ihren Willen, denn schließlich würde sie ja bei der Familie des Colonel leben, der selbstverständlich versprach, auf ihre Tochter aufzupassen.
Madame Moullet führte ein strenges Regiment, das hieß: sechs Tage Arbeit und nur sonntags bis zum Abendessen frei. Meine Mutter liebte die Kinder der Familie, sie liebte ihre Arbeit und ganz besonders liebte sie die freien Sonntage, an denen sie ihre Streifzüge durch das herbstliche Paris unternahm, von denen sie begeisterte Briefe nach Hause schrieb.
An einem dieser freien Sonntage wurde sie auf einer Parkbank im Bois de Boulogne von einem jungen Mann, kaum älter als sie, angesprochen. Als er von ihr wissen wollte, was sie in Paris mache, flunkerte sie ihm vor, sie sei auf Urlaub hier. Und auf seine Frage, ob sie sich wiedersehen könnten, sagte sie, vielleicht, und er gab ihr seine Adresse. Nichts hätte schöner und aufregender sein können als Paris in diesem Herbst.
Erst zu Weihnachten, als Paris kalt und regnerisch war, bekam sie Sehnsucht nach daheim. Die Familie des Colonel war über die Feiertage verreist, und sie fühlte sich einsam und verlassen in der großen Stadt. Sie erinnerte sich an den jungen Mann aus dem Bois de Boulogne, und sie rief ihn an. Sie trafen sich. Sie trafen sich wieder, sonntags. Er zeigt ihr die Stadt und irgendwann auch sein möbliertes Zimmer.
Es war im März, als ihr im Vorortzug zurück nach Versailles plötzlich schlecht wurde. Der Zugführer fragte, ob sie einen Arzt bräuchte. Nein, sie bräuchte keinen Arzt. Ihr war klar, daß sie schwanger war.
(S. 10-12)
© 1999, Otto Müller, Salzburg/Wien.
Publikation mit freundlicher Genehmigung des Verlags.