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Leseprobe: Manfred Wieninger - "Der Engel der letzten Stunde."

"Da haben Sie aber Glück, dass Sie mich noch erwischen. Normalerweise ist bei uns früher Schluss."
Die Direktorin der Wilhelm-Miklas-Hauptschule balancierte eine hoch auftoupierte Frisur auf ihrem Kopf und saß kerzengerade an einem nachgemachten Empire-Schreibtisch [...]. Ihr dunkelblaues Kostüm mit dem neckischen weißen Seidenschal sah nicht nach Pflichtschullehrerin in einer Provinzhauptstadt, sondern eher nach Diplomatischem Korps aus. Mindestens. So träumte sich eben jeder, wie er konnte, über seine Verhältnisse. Sie war etwa fünfzig und hart wie Gussstahl, der in Eiswasser zum Erkalten gebracht worden war. Ich wusste, dass sie von einer Partei in ihre Funktion gebracht worden war wie alle Schuldirektoren Österreichs und dass sechzig bis siebzig Prozent ihrer Schüler diese pädagogische Anstalt verließen, ohne lesen, schreiben oder rechnen zu können, um frisch, fröhlich, frei zum Lumpenproletariat des 21. Jahrhunderts heranzuwachsen.
[...]
"Sie nannten das Kind vorhin beim Vornamen? Haben Sie sie vielleicht näher gekannt?"
[...]
"Ja, neben meiner Leitungsfunktion unterrichte ich noch ein wenig. Geographie. Helene war ein ruhiges, sehr stilles Kind. Nicht eigentlich brav, sondern verstockt."
"Was heißt verstockt?"
"Unsere Schüler verwandeln regelmäßig die Bänke in Spreißelholz, zerschlagen die Stühle, montieren die Wasserhähne ab, zerdeppern die Fliesen in den Toiletten, bedrohen die Kolleginnen und Kollegen und greifen den Schulwart tätlich an. Das alles hat die kleine Kafka nicht getan."
"Was hat sie denn getan?"
Die propere Direktorin hielt inne. Bedauert sie, überlegte ich, jetzt schon ihre Offenheit?
"Ich hoffe, Sie bedauern Ihre Offenheit nicht, aber es könnte sich immerhin um ein Kapitalverbrechen handeln! Was hat die kleine Kafka getan?"
[...]
"Nichts, buchstäblich nichts, das ganze Jahr, das sie bei uns verbrachte, hat sie nichts getan. Sie ist auf ihrem Stuhl gehockt, Stunde um Stunde, und hat nichts gesagt, nichts getan, absolut nichts!"
"Auch wenn das jetzt eine ziemlich blöde Frage ist: Halten Sie das für normal?"
"Als erfahrene Pädagogin sage ich Ihnen: Was ist bei Kindern schon normal?"
"Hatte sie Freunde in der Klasse?"
"Wie soll das gehen, wenn man keinerlei Aktivitäten setzt, nicht einmal selbstständig aufs Klo geht?"
"Hat sie jemand von der Schule abgeholt?"
"Über neunzig Prozent unserer Kinder haben kein intaktes Elternhaus mehr. Die werden niemals von der Schule abgeholt, die nicht!"
Unsere Gesellschaft produziert Handys, telegene Erhabenheit, immense Butterüberschüsse und noch mehr Gleichgültigkeit, dachte ich, ein Meer an Gleichgültigkeit.
(S. 89-91)

© 2005, Haymon Verlag, Innsbruck-Wien.

 

 

 

 

 

 

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