Karlas Wangen zitterten. "Sie hat zu weinen begonnen, jetzt kann sie mir nie wieder vertrauen, hat sie geklagt. Die Strafe war nicht so schlimm, schlimmer war, daß ich jetzt überzeugt war, es hätte nie ein so durch und durch schlechtes Kind gegeben wie mich. Erinnerst du dich an das Märchen von der Hand, die aus dem Grab wuchs, weil die Tochter - oder war es ein Sohn? - diese Hand gegen die Mutter erhoben hatte? Da war ich gemeint!"
Sefa fuhr auf. Das war doch ich, dachte sie, gibt es das, daß sie das gleiche erlebt hat?
"Bist du sicher?"
"Was soll das wieder heißen? Natürlich bin ich sicher, ich bin doch nicht blöd!"
Sefa schluckte. Die Vergangenheit bekam immer mehr Risse, durch die Risse sickerte eine Bedrohung ohne Namen, ein Etwas, das sich ausbreitete wie Rost auf Eisen, wie Schimmel im Brot, wie Fäulnis im Fleisch, das die Vergangenheit auffraß und damit einen Teil von dem, was dem eigenen Leben Struktur verlieh. Sie hatte das Gefühl, sich selbst zu entgleiten, wie ein Spiegelbild im aufgepeitschen Wasser. Vielleicht war das der Anfang vom Ende, man zerrann langsam, bis nichts mehr da war. Wie lange war es her, seit die Tage endlos gewesen waren und die Monate viel zu kurz? Jetzt waren die Tage zu kurz.
(S. 111f.)
© 2003, Deutscher Taschenbuch Verlag, Deutscher Taschenbuch Verlag.
Publikation mit freundlicher Genehmigung des Verlags.