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Leseprobe: Josef Winkler - "Ich reiß mir eine Wimper aus und stech dich damit tot."

Nein, zu mir sagte niemand: "Joey! Wasch dich, putz dir die Zähne, zieh dich an, wir werden ins Kino gehen!" Nein, ich kam einmal, da war ich fünfzehn Jahre alt und ging in Villach in die Handelsschule, an einem Nachmittag nicht um halb drei, sondern erst um Viertel vor fünf mit dem Omnibus nach Hause, setzte mich in die Küche an den Tisch, mit dem Rücken zur Tür, löffelte an der aufgewärmten Suppe, die mir die schweigsame und verschwiegene Mutter diesmal mit besonderer, mich irritierender Wortlosigkeit auf den Tisch stellte und unter mein Kinn schob, als mein Vater – He, Joe, ich sah es im Augenwinkel, rechts, wo der Sparherd stand, eine gelbrote Flamme züngelte aus dem Loch der großen, heißen Herdplatte – damals tatsächlich, um Joes Worte zu gebrauchen, ein John-Wayne-Typ, die Stallarbeit, die er gerade erst begonnen haben mußte, unterbrach, mich von hinten, die Küchentürschwelle überschreitend, überraschte, mir einen nach Kuhscheiße stinkenden Kalbstrick mit den Krallen seiner Fingernägel, unter denen sich ebenfalls Kuhscheiße befand, unter die Nase hielt und mit bedrohlicher, mir nie mehr aus den Ohren gegangener Stimme sagte: "Schau ihn dir an! Schau ihn dir genau an! " (Seine Fingernägel schnitt er immer mit einer Zange, mit der er den Ferkeln die Zähne abzwickte.) Meine Beine schlotterten unter der Tischplatte, mit tränenverschwommenen Augen starrte ich auf die Fettaugen in der Suppe. Dann drehte er sich um und ging hinter meinem Rücken wieder zur Küchentür hinaus. Ich war zu spät nach Hause gekommen, ich war in Villach im Bahnhofskino gewesen, in dem, wenn ein Güterzug am ersten Bahnsteig unmittelbar neben dem Kino vorbeidonnerte, die Sessel zitterten. Ich hätte damals, als ich die heiligen Kinohallen in Villach mit den Kirchhallen nicht nur vertauscht, sondern längst auch verwechselt hatte, am liebsten in meinem bilderkargen Heimatdorf, in dem ich die ersten vierzehn Jahre meines Lebens verbracht hatte, Bilder und Sätze vom nächtlichen Sternenhimmel gekratzt, aber ich war noch zu klein und habe mir dann später, wie Joe – "Das einzelne Wort ... Die Mühe, es zu vernehmen ... Das Hirn müde vom Würgen ... " – einige Jahre zuvor und nur wenige Kilometer von meinem Heimatdorf entfernt, ohne Angst zu haben vor dem den Rachen weit aufreißenden und den halben Kinosaal verschluckenden, brüllenden Löwen, die Sterne von MetroGoldwyn-Meyer von der Leinwand geholt, ja, wir haben abgeräumt, richtig abgeräumt, es war ein Kasino der makaberen Fantasie, als Franco Nero im allerersten Django-Film an einem Strick einen Sarg durch die Gegend schleifte und ein anderer Strick im Film "Hängt ihn höher" so fürchterlich knarrte aus dem Lautsprecher im Apollo-Kino, als der als Rinderdieb denunzierte Clint Eastwood aufgehängt wurde an einem Baumast und ich den lange im Wind schwankenden Körper des Erhängten auf der Leinwand sah, daß ich nach meinem verschmutzten Hemdkragen griff, die geschwollenen und blauangelaufenen Halsschlagadern abtastete im muffigen, rotgepolsterten, kleinen Vorführsaal des Apollo-Kinos in Villach, direkt am Ufer der Drau. Ja, es waren die Westernhelden, es waren die Glorreichen Sieben, es war die todessüchtige Mundharmonika im Film "Spiel mir das Lied vom Tod" von Charles Bronson, es war der Film "The Wild Bunch – Sie kannten kein Gesetz" von Sam Peckinpah, wo ich das erste Mal die Guten oder die Bösen, das war mir gleichgültig, in Zeitlupe mit kocherhobenen Händen und gestrecktem Körper im Kugelhagel sterben sah, und es waren natürlich die Beatles, die Pilzköpfe, wie wir sie nannten, und die Stones, und es war der Hit "No milk today" von den Herman's Hermits, den ich mir tausendmal anhörte, no milk today, vermaledeiter, nach Kuhscheiße stinkender Kalbstrick, es waren die Blue-Jeans, wie wir sie nannten – He, Joe, du erinnerst dich, Gammler! Hatten sie uns genannt, Gammler! Und No milk today! haben wir Bauernjungen zurückgerufen! Und der Engel Wut hat den Kirchturm umgedreht und mit der Spitze voran in Gottes Erde hineingebohrt, und so haben sie sich selber dem Himmelsboden gleichgemacht, die aufrecht am Altar stehenden und mit Blattgold verzierten Engel, die nur so lange, bis ich ihnen als rotgekleideter Ministrant auf der Rückseite des Altars hinter die Schliche gekommen war und ihren ausgehöhlten, hohlen Holzkörper bestaunte und abtastete mit meinen Kinderhänden. "Und wenn man dich jetzt sieht ... Nur noch eine einzige Passion ... In deinem Kopf die Toten töten." Außen hui und innen pfui! hat der Dorfpfarrer immer wieder von der Kanzel gerufen bei seinen Predigten, als er mit seinem Rücken am Altar vor den vergoldeten, hinten ausgehöhlten Engeln stand. Und nicht zu vergessen, Klaus Kinski und Jean-Luis Trintignant im Film "Leichen pflastern seinen Weg", und das alles entweder im Apollo-Kino am Ufer der Drau oder im Bahnhofskino beim Rattern des Maschinengewehres auf der Leinwand und beim gleichzeitigen Vorbeirattern eines Güterwaggons am Bahnsteig eins in Villach.
(S. 74ff)

© 2008 Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M.

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