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Kathrin Röggla: Gespensterarbeit, Krisenmanagement und Weltmarktfiktion.

Essay.
Wien: Picus Verlag 2009.
Edition Gesellschaftskritik, Band 6.
62 S.; geb.; Euro 8,90.
ISBN 978-3-85452-585-1.

Projektpartner: readme.cc - Neue Literatur in Österreich

Link zur Leseprobe

Wohl kaum eine andere deutschsprachige Autorin hat sich so intensiv mit den Problemen der Gegenwart auseinandergesetzt wie Kathrin Röggla. In ihrem jüngsten Buch, dem Essay "Gespensterarbeit, Krisenmanagement und Weltmarktfiktion", der auf einem Vortrag basiert, den sie im Rahmen der Wiener Vorlesungen gehalten hat, beschäftigt sich Röggla – wie unzählige andere Autoren, Philosophen, Soziologen, Wirtschaftswissenschafter, Futurologen und Politiker aller Couleurs auch – mit der Wirtschaftskrise. Sie tut dies jedoch auf unkonventionelle Art und Weise.

Röggla geht davon aus, dass in Wirtschaft und Gesellschaft das Fiktive gegenüber dem Realen an Oberhand gewonnen hat. Dabei greift sie auf Guy Debords 1967 erstmals erschienenes Buch "Gesellschaft des Spektakels" zurück. An der Börse, die zur Metapher unserer Zeit geworden ist, werden zukünftige Erwartungen gehandelt, die aber in reale Werte umgesetzt werden und dadurch gegenwärtige Entwicklungen eminent und vehement bestimmen. Da die öffentlichen Rhetoriken "Tonlagen annehmen, wie man sie eigentlich aus dem Suspense-Hollywoodkino kennt", stellt sie in ihrem diskursanalytischen Essay die nicht unoriginelle Frage, welchem Genre nun die allgegenwärtigen Krisenrhetoriken entstammen und wozu sie letztendlich dienen. Entstammen sie dem Katastrophen- oder dem Gespensterfilm, dem Fernsehkrimi, einem Shakespeare-Remake oder der Filmkritik?

Die Welt ist vernetzter und deshalb komplizierter geworden, darum werde den Helden aus heutigen Katastrophenfilmen "weniger Erfahrung denn eine hypernervöse Wachheit abverlangt, Flexibilität und dynamische Prozessorientierung, Bereitschaft zum Strategiewechsel." Eigenschaften, die auch Manager gut gebrauchen können in einem Wirtschaftssystem, dessen unternehmerischer Alltag einer permanenten Katastrophenbewältigung gleiche. Röggla verweist auf Naomie Kleins Buch "Die Schock-Strategie – Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus", in dem diese die Zusammenhänge zwischen Kapitalismus und Katastrophe darstellt. Neoliberale Politik, die sich vor allem in Deregulierungen, Privatisierungen und Sozialkürzungen äußert, werde, so Klein, bevorzugt in Krisenzeiten umgesetzt, deshalb habe die Politik ein Interesse an dem Dauerzustand Krise. Dann nämlich herrsche Zugzwang und sei rasches Handeln gefragt – das nicht hinterfragt zu werden braucht. Die in den Medien beschworene Katastrophenrhetorik, das Spielen mit worst-case-Szenarien unterstütze somit die Anliegen der Politik. Stehen wir vor dem Ende des Kapitalismus, vor der oftmals zitierten Zeitenwende? "Auch das Drehbuch des Katastrophenfilms sagt Nein. Folgt man ihm, etabliert sich nicht eine neue Gesellschaft, ein Katastrophenfilm erzählt selten, so paradox es klingen mag, von einem Epochenbruch, sondern eher von einer Rückkehr."

Der Horrorfilm, so Röggla, "lebt von der Antizipation, von der Erwartung, dass gleich etwas um die Ecke biegt, was dem Helden feindlich gesinnt ist." Gespannt und gelähmt vor dem Gespenst des Wirtschaftskollaps blicken wir auf Stimmungsberichte, auf Frühindikatoren, die auf die tatsächliche Wirtschaftsentwicklung verweisen: "Die gefühlte Konjunkturentwicklung tritt vor die echte, die ihr dann schon brav folgen wird, einstweilen starren wir die Punktezahlen des Geschäftsklimaindex an."

In den guten alten Zeiten der Wirtschaftskriminalität, als die Delikte noch greifbar und meistens auch nachzuweisen waren, konnten die Bösen identifiziert und zur Rechenschaft gezogen werden. "Aber nein, in unserem Film haben wir es nicht mit dem einfachen Betrug eines Schneeballsystems, Kettenbriefs oder Pyramidenspiels zu tun, sondern mit ominösen toxischen Blasen, in denen immer neue faule Kredite auftauchen." Die Täter sind nicht auszumachen, die Opfer unzählig, an Aufklärung besteht wenig Interesse. Also taugt auch das Schema des Fernsehkrimis nicht zur Darstellung der Geschichte der Finanzkrise.
Wie würde Shakespeare auf die gegenwärtige Lage reagieren? "Die Welt ist nicht mehr im Shakespeare'schen Sinne erzählbar.", so Röggla nüchtern. Wer wären die Protagonisten in einem Königsdrama à la Shakespeare? Wo sitzt die Macht? "Vermutlich ergibt erst das Zusammenspiel dieser unterschiedlichen Parteien – Unternehmensberater, Vorstands- und Aufsichtsratsvorsitzende plus Finanzdienstleister – so etwas wie den Sitz der Macht, dem man heute gerne Ortlosigkeit zuschreibt, ja, manchmal sogar Gasförmigkeit."

Was bleibt dem Schriftsteller also, wenn die bösen Mächte ungreifbar bleiben? Er kann Kritik üben. Muss diese aber nicht, wenn selbst die Protagonisten der Finanzbranche an ihren eigenen Geschäftspraktiken Kritik üben, verpuffen? "Schriftsteller, angeblich Meister des Fiktiven und doch entthront von dem gesellschaftlich Fiktiven, sind Spezialisten für sprachliche Verhältnisse, für Rhetoriken, mediale und politische. Ich könnte mir das also ansehen und sagen, dass wir derzeit zwischen drei Rhetoriken eingespannt sind: Da ist zunächst die sozialdarwinistische Rhetorik des reinigenden Gewitters, die mehr zu Beginn der Krise zu hören war und zu der komplementär eine vulgärmarxistische Revolutionsrhetorik gehört, die aber eher anderen zugeschrieben wird als selbst ausgeübt. Dann finden wir die Rhetorik des Beschwichtigungsflusses vor, der aus den Mündern der Politiker strömt, und zu guter Letzt hören wir eine apokalyptische, zumindest alarmistische Rhetorik, die in den Medien vertreten ist, die das Spektakel des Untergangs gut brauchen können."

Röggla verweist auf die Verwendung von Superlativen und Euphemismen, von Katastrophensprachbildern wie "Finanz-Tsunami" oder "Konjunktur-Seuche". Sie beklagt eine Überthematisierung der Krise durch die Medien und fragt sich, warum die Bevölkerung darauf mit Phlegma und Verdrängung, mit "Apokalypseblindheit" (ein Begriff von Günther Anders) reagiert. Die Antwort findet Röggla mithilfe von Guy Debord und dessen Begriff der "Gesellschaft des Spektakels". Debord meinte nämlich, dass das Spektakel, "die ununterbrochene Rede, die die gegenwärtige Ordnung über sich selbst hält", das Gegenteil eines Dialogs sei. Röggla schließt daraus, dass deshalb ein produktiver Diskurs über das Medienphänomen "Finanzkrise" zwangsläufig nicht zu Stande kommen könne. Eine triste Conclusio eines äußerst anregenden Essays.

 

Peter Landerl
19. August 2009

Originalbeitrag

Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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