Ein entsetzlich vertrautes Gewicht ist an meiner rechten Seite. Das kann nur eine Sinnestäuschung sein. Früher habe ich oft davon geträumt und bin schweißgebadet und zitternd aufgewacht. Die Welt war dann wieder ganz klein und eng. An Schlafen war nicht mehr zu denken. Ich musste Beruhigungstabletten nehmen. Vor ein paar Jahren haben diese Träume schlagartig aufgehört. Ich fühlte mich wohl in Sicherheit. Ich möchte mich aufrichten, aber ich werde durch das Gewicht schmerzhaft zurückgehalten. Es zerrt an mir. Mir wird übel. Ich lege meinen Kopf wieder auf das Kissen und schließe die Augen. Ich will mich zur Seite drehen, um die Übelkeit abzuwenden, aber es geht nicht. Jetzt erst bemerke ich, dass Paco neben mir liegt, und nach einigen endlos langen Sekunden begreife ich, dass ich keiner Sinnestäuschung unterliege.
Ich saß in meinem Stammlokal Yamamoto, am Laufband für die Running Sushis. Es gab nicht nur Sushis, sondern diverse ostasiatische Gerichte, zugeschnitten auf den westlichen Magen, angerichtet auf Tellerchen und Schüsselchen im Miniformat. Der Italiener nebenan lieferte dem Yamamoto kleine Tiramisuquadrate und Pannacottazylinder, das Wiener Café auf der anderen Seite Miniapfelstrudel, denn der westliche Gaumen braucht zum Abschluss eines Essens ausreichend Zucker und Fett, daran fehlt es den asiatischen Desserts meist, vor allem an Fett. Am liebsten saß ich vor dem Laufband und ließ mich von den vorbeiziehenden kleinen Plastikkuppelchen in einen Trancezustand versetzen.
Das Bild Nachtschwärmer von Edward Hopper kam mir in den Sinn. Auf den ersten Blick scheint eine volle Sushi-Bar am Tag das genaue Gegenteil einer schlecht besuchten Bar im nächtlichen Manhattan zu sein. Aber die Einsamkeit des allein an der Theke Sitzenden ist dieselbe, egal, ob rund um ihn wenige oder viele Leute anwesend sind, egal auch, ob die Speisen vom Förderband oder von einem Kellner gebracht werden.
Wenn der erste Hunger gestillt war und ich mit gezügeltem Interesse warten konnte, was da noch kommen mochte, ohne mit jemandem in einen Esswettkampf treten zu müssen, fühlte ich mich am wohlsten. In der Kücheninsel, um die das Laufband ruckelte, konnte man beobachten, was als nächstes produziert wurde. Mehrere Köche arbeiteten gleichzeitig an verschiedenen Speisen und stellten sie dann auf das Laufband. Jeder Koch war für sein Produkt vom Anfang bis zum Ende verantwortlich. Manchmal reichte ein Koch einem Gast einen Teller direkt über das Laufband hinweg, eine besondere Auszeichnung, die man nicht ablehnen durfte.
„Hallo Paul! Ich habe einen Hunger wie ein Löwe.“
Paco bat meinen linken Sitznachbarn, sich einen Platz weiter zu setzen. Dem angesprochenen fielen knapp vor dem Mund die glitschigen Weizennudeln herunter, die er sich zuvor mühsam zwischen die Stäbchen geklemmt hatte. Vier Leute mussten aufstehen und weiterrücken, damit Paco neben mir sitzen konnte. Ich nahm mir rasch einen Teller vom Band.
Paco rief mit seiner dröhnenden geschulten Stimme nach dem Kellner, der wortlos seine Getränkebestellung aufnahm. Paco öffnete bei fünf oder sechs Tellern die durchsichtige Kunststoffglocke, bevor er einen herunternahm. Die verschmähten Speisen zogen mit verrutschter Glocke davon.
„Was gibt’s neues?“, fragte Paco.
„Bin ich dein Auskunftsbüro?“
„Ich habe eine gute Nachricht. Ich bleibe noch zwei Wochen hier, die Dreharbeiten verlängern sich.“
„Hm.“
„Mir gefällt’s hier. Am Set habe ich nichts mehr zu tun, aber der Regisseur will, dass alle Schauspieler bis zum Ende der Dreharbeiten anwesend sind. Für alle Fälle. Falls ihm noch irgendetwas einschießt.“
„Klingt nicht sehr professionell.“
„Er ist der Regisseur. Er ist ein Künstler. Was willst du.“
„Einfach essen. Sonst nichts.“
© 2011 Deuticke Verlag, Wien.