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Julya Rabinowich: Die Erdfresserin.

Roman.
Wien: Deuticke, 2012.
240 S.; geb
, Euro 18,40 (A).
ISBN: 978-3-552-06195-8.

Link zur Leseprobe

Diana ist eine Heldin, wie sie die Literatur und das Leben gemeinhin hervorbringen, wenn der Einzelne, vom Ungemach des Daseins in die Enge getrieben, Angst und schwächelnde Moral überwindet, um dem drohenden Untergang zu entgehen. Was Rabinowichs Protagonistin quasi die Luft zum Atmen abschnürt, ist der Kampf ums Überleben vor dem banalen Hintergrund des sowjetischen Alltags irgendwo in einem Dorf in Dagestan.

Gemeinsam mit ihrem behinderten Sohn, ihrer unleidlichen Schwester, die vergeblich auf einen Bräutigam wartet, und der mit Zuneigung geizenden Mutter lebt sie in einem Haus, welches jene der Nachbarn an Größe und Schönheit übertrifft. Es besitzt sogar eine Bibliothek, die der Vater zu benutzen pflegte, ehe er sich aus dem Staub machte. Doch die Insignien des Wohlstands sind längst verblasst, und Geld ist auch in diesem Haushalt knapp. Da es der studierten Theaterregisseurin Diana nicht gelingt, mit den Einkünften aus sporadischen Aufträgen das häusliche Budget zu bestreiten, und obendrein die teuren Arzneien für den Sohn gekauft werden müssen, sucht sie ihr Glück in Europa: „Alle wollen wir nur einen Löffel vom Honig, ein Gläschen von der Milch, die in Europa fließt.“ Aber der Westen hält nicht, was man sich von ihm im Osten verspricht.

Auf ihren illegalen Streifzügen durch den gelobten Kontinent landet Diana in Wien. Gerissen und rücksichtslos versucht sich die junge Frau in der Halbwelt zwischen Gürtel und Prater zu behaupten, schickt Ersparnisse in die Heimat und stattet ihren Angehörigen gelegentliche Besuche ab. Hunger und finanzielle Not lassen sie nicht zur Ruhe kommen. Eines Tages wird sie von der Polizei aufgegriffen. Der um sein Karma besorgte Polizist Leo lässt sie jedoch laufen. Aus der flüchtigen Begegnung mit dem kranken und naiven Österreicher entwickelt sich eine besondere Art von Beziehung, bei der Diana gekonnt die Rolle der fürsorglichen Nutznießerin spielt. Doch da stirbt der inzwischen bettlägerig gewordene Schutzengel unerwartet. Nun spitzt sich die Lage für die Russin gefährlich zu. Nach einem Zusammenbruch wird sie in eine psychiatrische Anstalt eingeliefert, wo sie allmählich zu Kräften kommt. Als ihr im Zuge von Beratungsgesprächen dämmert, dass sie als Asylwerberin nicht infrage kommt, bricht sie die Behandlung ab und stiehlt sich aus dem Krankenhaus …

Diana, die keine Stücke mehr inszeniert, hat auf Schleichpfaden die große europäische Bühne betreten, auf der sie Jägerin und Gejagte zugleich ist. Unter den vergleichsweise satten Bürgern des goldenen Westens, die sie lediglich im Lichte ihrer persönlichen Not zu betrachten gewillt ist, entdeckt sie unversehens Inseln der Menschlichkeit. Im gesetzlosen Raum zwischen Attraktion und Repulsion, in dem sich die Fremde den Einheimischen nähert, gedeihen erstaunlicherweise auch Zuwendung und Mitgefühl. Bisweilen etwas mehr. So muss sich Diana, die beschlossen hat, niemals zu unterliegen, eingestehen: „[…] nie wieder soll mir jemand so nahe kommen, wie es Leo in seiner Ahnungslosigkeit gelungen ist, der dumme Leo mit seiner kleinen Welt rund um sein stinkendes Bett“.

Dieser sentimentale Zwischenfall, der vage in Dianas Erinnerung aufleuchtet, bringt sie nicht aus der Fassung und keineswegs von dem Vorhaben ab, Geld für ihren Sohn aufzutreiben. Dabei gerät die vor den Wächtern des kapitalistischen Konsumparadieses Fliehende zusehends ins gesellschaftliche Abseits: „Die Städte beginnen mich mit ihrer Helligkeit zu bedrohen, ich umgehe Lichter in der Nacht, ich bewege mich in der Deckung von Bäumen und Sträuchern, die Autos, die mit blendenden Scheinwerfern durch die Nacht stechen, sind mir ein Greuel.“

Was trägt, ist die schmutzige weiche Erde, ihr Golem, ein phantastischer Vaterersatz, der, um es mit Rilke zu sagen, „dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält“. Erst die mystische Beschwörung menschlichen Verwurzeltseins in der Natur, Wohnstatt aller Nomaden, bietet der Erdfresserin letztlich Obdach. Und Schutz, bis sie abermals aufgespürt wird – so das perfide Kalkül der Autorin, deren jüngster Roman verstört und bezaubert zugleich.

Walter Wagner
21. August 2012

Originalbeitrag
Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

 

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