An einem milden Spätsommertag trat Anita in mein Leben, besser, sie rannte beinahe in mich hinein, ich konnte ihr gerade noch ausweichen, bevor wir zusammenprallten. Sie trug ein weites, kariertes Hemd und an einem dünnen Lederhalsband einen silbernen Anhänger, der ein Reptil verkörperte. Das Hemd schien aus den Tagen amerikanischer Pioniere zu stammen, ihr Gesicht war bereit, jederzeit zu lächeln, was sie sofort berührbar machte. Es schien mir ersichtlich, dass sie eigenwillig war, Regeln ablehnte oder zumindest gerne Hinterging, und deshalb war es unwahrscheinlich, einem Menschen wie ihr in der Strenge des Amtes für verlorene Güter zu begegnen. Erst dachte ich, es handle sich um eine Fata Morgana, dann, es wäre eine Klientin, eine, die sich mit dem auszufüllenden Formular nicht auskannte und nun mein Büro ansteuerte. Fremde sprach ich nie an, aber jetzt hielt ich inne und fragte, wen sie suche. „Niemanden. Ich bin die neue Kollegin. Ich arbeite jetzt nebenan“, antwortete sie prompt und irgendwie frech. Ich lachte und, vielleicht noch unbeschwert von meinem Urlaub, sagte kühn: „Kommen Sie doch auf einen Sprung zu mir.“ […] Wie die Schlange um die Beute wand ich mich um das Thema des vermutlich lesbischen Lebensentwurfes der neuen Kollegin, stellte vorsichtige Fragen und sie gab bereitwillig Auskunft, aufgeregt, als ob auch sie nur auf die Begegnung mit mir gewartet hätte. Vielleicht hatte sie in meiner Abwesenheit schon von mir gehört oder war sie immer so schnell bereit, über sich zu reden? Wie vom Schicksal zusammengetrieben waren wir. In den ersten zehn Minuten schon erfuhr ich, dass sie Mutter zweier kleiner Buben war, aber in Scheidung lebte. „Die Kinder hab ich ohnehin nur am Wochenende, die hab ich meinem Exmann überlassen, die sind aber super, meine Kids“, sprudelte sie heraus. Sie sei ihrem Mann, einem Jugendfreund, fünfzehn Jahre lang treu gewesen, aber dann sei es zu einem grundlegenden Wandel in ihrem Leben gekommen....
(S. 5-7)
[…] Ich beginne, mich rasend in sie zu verlieben, sie zu brauchen und mit ihr sein zu wollen, Tag und Nacht am liebsten. Ich werde mich nie an ihr sattsehen und sattküssen können. Habe so große Sehnsucht nach ihr, die schmerzt jetzt schon manchmal, obwohl es noch gar keine Konflikte gibt, weil wir so ineinander verknallt sind, dass alles andere verblasst. Sie ist so erstrebenswert für mich. Alles vereinfacht sich mit ihr. Sie ist ohne Arg, Boshaftigkeit oder Intrige, wie ich sie auch von Frauen kenne. Sie braucht gewisse gesellschaftlich wichtigen Dinge nicht so wie ich, Kleidungsstücke, sich schmücken und zieren. Für mich ist Kleidung immer Mittel zur Inszenierung, es sei denn, ich sitze acht Stunden im Büro und sehe nur die Kollegin, dann nicht. Aber sonst warte ich auf Gelegenheiten, in denen ich ausgefallene Stoffe, Glitzer, Pailletten, Lack und Lycra anlege.
(S. 50)
© 2009 Verlag Claudia Gehrke, Tübingen