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  • Die Dostojewski-Übersetzerin Swetlana Geier ist mit 87 Jahren verstorben. Die 1923 in Kiew geborene Swetlana Geier galt als eine der bedeutendsten Übersetzerinnen russischer Literatur ins Deutsche und setzte dabei mit ihren Dostojewski-Übersetzungen einen neuen Standard. Ein Nachruf auf die Grande Dame der Übersetzung.

    Von Jürg Vollmer / maiak.info

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    Textauszug aus diesem Dokument

    Die DostojewskiÜbersetzerin Swetlana Geier ist mit 87 Jahren verstorben. Die 1923 in Kiew geborene Swetlana Geier galt als eine der bedeutendsten Übersetzerinnen russischer Literatur ins Deutsche und setzte dabei mit ihren DostojewskiÜbersetzungen einen neuen Standard. Ein Nachruf auf die Grande Dame der Übersetzung. [...]
    Gespräche mit Swetlana Geier waren immer Zeitreisen durch die Welt und Literaturgeschichte. Noch wenige Monate vor ihrem Tod am 7. November 2010 erzählte die 87jährige Übersetzerin mit grosser Leidenschaft von Fjodor Dostojewskis grossen RomanTragödien und Lew Tolstois realistischen Romanen.
    Genau so spannend wie die von ihr übersetzte Literatur war aber das unglaubliche ÜberLeben von Swetlana Geier, das sich sowohl zwischen Stalin und Hitler als auch zwischen Dostojewski und Goethe abgespielt hatte. [...]
    Geboren wurde Swetlana Iwanowa so lautete ihr Mädchenname am 26. April 1923 in Kiew als Tochter russischer Eltern. Ihr Vater wurde 1937 während Stalins Grossem Terror verhaftet, der im Russischen unpassend als Grosse Säuberung Bolschaja Tschistka bezeichnet wird. Diese Säuberung forderte in drei Jahren über 700.000 Todesopfer und eine Million Menschen erwarteten in den Lagern des Gulag ihren Tod.
    Der Vater wurde ohne Anklage oder Gerichtsurteil nach 18 Monaten grausamer Folterungen als menschliches Wrack entlassen und starb ein halbes Jahr später, von der fünfzehnjährigen Swetlana bis zum letzten Tag gepflegt. In diesen Irrungen und Wirrungen der Sowjetzeit lernte ich seit meinem fünften Geburtstag die deutsche Sprache, die meine Sprache wurde, in der ich sogar träume, erzählte Swetlana Geier. [...]
    Als im Juni 1941 der Vernichtungskrieg des Deutschen Reiches gegen die Sowjetunion begann, machte sie in Kiew gerade ihr Abitur mit einem Goldenen Zeugnis eine brillante Eins in allen Fächern. Trotzdem, oder gerade deswegen, musste Swetlana ihr frisch begonnenes Sprachstudium unterbrechen, um nach dem Einmarsch der NaziTruppen als Übersetzerin für die deutsche Baufirma zu arbeiten, welche eine Eisenbahnbrücke über den Dnjepr baute.
    Im September 1941 massakrierte die deutsche Wehrmacht in der Schlucht Babi Jar einen Grossteil der jüdischen Bevölkerung von Kiew. Ich musste mehrere Tage lang dem Maschinengewehrfeuer zuhören, mit dem pro Tag über 15.000 Menschen hingerichtet wurden, darunter auch meine beste Schulfreundin Neta.
    Heute schätzt man, dass diesem systematischen Massenmord 200.000 Menschen zum Opfer fielen. Doch das Blatt wendete sich: Als Hitlers 6. Armee 1943 in der Schlacht von Stalingrad kapitulierte und sich der Untergang des Deutschen Reiches abzeichnete, wurde Swetlana für ihre Landsleute zur Kollaborateurin und musste mit ihrer Mutter nach Deutschland flüchten. Aber auch dort wurden sie festgenommen und in ein Lager für Ostarbeiter gesteckt, dem sie nur mit Hilfe von Freunden nach einem halben Jahr entkommen konnten. [...]
    Während in Hitlers Deutschem Reich und in Stalins Sowjetunion die Soldateska wütete, wurde die deutsche und russische Literatur für Swetlana zur Hüterin der Wahrheit. Sie entwickelte in dieser Zeit einen Blick für das Wesentliche: für Dichtung, die nicht mehr als Dichtung sein will, für die moralische Verantwortung des Menschen und für die Endlichkeit des Seins, glaubt der Slawist Ulrich M. Schmid.
    Wie durch ein Wunder erhielt Swetlana mitten im Deutschen Reich im letzten Kriegsjahr ein Stipendium und zog mit der Mutter nach Günterstal am südlichen Stadtrand von Freiburg im Breisgau, wo sie bis zu ihrem Tod lebte. Sie begann 1944 ein Studium der Literaturwissenschaft und vergleichenden Sprachwissenschaft an der Universität Freiburg, heiratete 1945 Christmut Geier von dem sie sich 1963 trennte und gründete eine Familie. [...]
    Jeden Nachmittag bin ich mit meinen beiden Kindern direkt hinter dem Haus in den Wald gegangen, wo frisch gefällte Baumstämme lagen. Die Kinder spielten da und ich sass auf einem Baumstamm und übersetzte Texte. Weil ich keine Schreibmaschine hatte, tippte mir der Publizist Hans Daiber die Übersetzung ab und schickte ohne mein Wissen eine Kopie an den Rowohlt Verlag.
    Der Verlag war begeistert und gab Swetlana Geier den ersten Auftrag für eine Übersetzungen. Seither übersetzte sie 38 Werke russischer Autoren. Neben diesen Übersetzungen blieb Swetlana Geier trotz Lehraufträgen an verschiedenen renommierten Universitäten immer der Universität Freiburg treu. Als Lektorin für Russisch prägte sie ganze StudentenGenerationen, weshalb sie 2007 die Ehrendoktorwürde erhielt. [...]
    Einer breiteren Öffentlichkeit wurde Swetlana Geier bekannt durch Ihre genialen Übersetzungen von Dostojewskis Meisterwerken den fünf Elefanten mit insgesamt 5.000 Seiten Umfang für den Zürcher Ammann Verlag: Verbrechen und Strafe 1994, Der Idiot 1996, Böse Geister 1998, Die Brüder Karamasow 2003 und Ein grüner Junge 2006. Jeder Figur gab Swetlana Geier ihre ganz eigene Stimme, wie im Original.

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