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Mai 2004
Christina Mohr
für satt.org


Charles Mingus:
Beneath the Underdog

Autobiographie
Edition Nautilus 2003

Charles Mingus: Beneath the Underdog

2. erweiterte Auflage, übersetzt von Günter Pfeiffer
318 Seiten, br.
EUR 16,90
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Sue Mingus: Tonight at Noon
Eine Liebesgeschichte
Edition Nautilus 2003

Sue Mingus: Tonight at Noon

Übersetzt von Conny Lösch, 288 Seiten mit 16 Seiten S-W-Fotos, EUR 22,00
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Charles Mingus:
Beneath the Underdog

Sue Mingus:
Tonight at Noon



Im vergangenen Herbst sind in der Edition Nautilus gleich zwei Bücher erschienen, in deren Mittelpunkt die Jazzlegende Charles Mingus steht. Mingus, der 1979 an einer unheilbaren Muskelkrankheit starb, hatte über mehrere Jahrzehnte an seiner Autobiographie "Beneath the Underdog" gearbeitet, die ursprünglich weit über tausend Seiten umfaßte, vom Originalverlag Alfred A. Knopf auf leserfreundliche dreihundert gekürzt. "Tonight at Noon", das Buch von Mingus’ letzter Ehefrau Sue Graham Mingus knüpft dort an, wo das Buch des Meisters selbst endet – in den frühen Siebziger Jahren. Zusammen ergeben die beiden Bücher ein bewegendes, lebendiges und authentisches Dokument der Jazzszene Amerikas seit den Fünfziger Jahren – immer untrennbar verknüpft mit dem Menschen Charles Mingus, der sich zeit seines Lebens als Außenseiter unter Außenseitern erfahren hatte. Als Kind einer Familie, die aus allen Ecken der Welt stammte, war er weder schwarz noch weiß noch gelb – durchaus ein Problem, weil er weder von den "Niggern" noch von den Chinesen als einer der Ihren akzeptiert wurde. Mingus’ Leben war Kampf und Aufbäumen gegen Rassismus und Ungerechtigkeit, verwoben mit einer unbändigen Sehnsucht nach Liebe, Frauen und vor allem Musik.


Charles Mingus
Charles Mingus

"Mit anderen Worten: ich bin drei. Der Eine steht immer in der Mitte, unbekümmert und unbeteiligt. Er beobachtet und wartet darauf, den anderen beiden sagen zu können, was er sieht. Der Zweite ist wie ein ängstliches Tier, das angreift aus Angst, selbst angegriffen zu werden. Und dann ist da noch ein liebevolles, sanftes Wesen, das jeden in die entlegenste und heiligste Kammer seines Innern läßt. Es wird beleidigt, unterschreibt vertrauensvoll Verträge, ohne sie zu lesen, und läßt sich überreden, umsonst zu arbeiten. Wenn es jedoch merkt, was mit ihm gemacht wird, dann möchte es alles und jeden in seiner Umgebung umbringen, auch sich selbst, für seine Dummheit. Doch es kann nicht – es zieht sich wieder in sich selbst zurück." Welcher von den dreien ist der Echte?" "Sie sind alle echt."

Mit dieser Selbstbeschreibung beginnt die eindrucksvolle Autobiographie eines Musikers, dessen Ich zu groß für einen allein war: Charles Mingus. Mingus galt als der "angry man" des Jazz, sein Baßspiel und seine Kompositionen sind herausragende Werke, er stand mit Charlie Parker, Miles Davis, Sonny Rollins und vielen anderen Jazzgrößen auf der Bühne.
Mingus spricht durch seine drei Personae, er schimpft, liebt, leidet, seine Prosa ist ungeschliffen, rauh und eruptiv, immer getrieben von seinem unstillbaren Hunger nach Liebe, Sex, Essen, Drogen, Musik. Einige Episoden in "Beneath the Underdog" entstammen mutmaßlich dem Reich der Mingus’schen Phantasie oder sind reine Aufschneiderei, wie zum Beispiel der geschilderte Trip nach Mexiko, wo Mingus nach eigener Aussage in einer Nacht 23 Frauen beglückt haben will. Umso mehr berührt Mingus’ eigene Einlieferung in eine psychiatrische Klinik:

"Hör mal, Mann", sagte ich, "ich bin geisteskrank. Ich bin Musiker, ich brauche Hilfe!" Ich habe einmal einen Film gesehen, in dem gesagt wurde: Wenn du Hilfe brauchst, mußt du als Erstes den Mut aufbringen, darum zu bitten. Also hilf mir, Mann! Der Wächter am Tor sagte: "Ich hab dir schon mal gesagt, daß hier nicht der richtige Platz für dich ist, wenn du nur müde bist. Ich kann von hier sehen, daß du etwas müde aussiehst, also geh heim, Mann, und leg dich ins Bett. ( …) Wenn ich dich reinlasse, wirst du sofort, nachdem ich das Tor hinter dir geschlossen habe, sagen: Laß mich raus, ich bin nicht verrückt! …"

Natürlich will Mingus, nachdem er den Wärter tatsächlich dazu brachte, ihn hineinzulassen, schnellstmöglich die Klinik wieder verlassen, was sich aber als schwierig gestaltet. Nach der abenteuerlichen Suche nach einem Telefon gelingt es Mingus, Theolonius Monk anzurufen, der ihn schließlich auslösen kann.
Später erfindet Mingus sich selbst als Zuhälter, als "pimp" und könnte – oberflächlich betrachtet – als Vorläufer heutiger Gangsta und Rapper gesehen werden. Doch durch den gesamten Text und Mingus’ Leben zieht sich eine tiefempfundene Menschlichkeit, die es ihm schließlich auch unmöglich macht, die Zuhälterfigur konsequent zu spielen.

Sue Mingus Buch erscheint nach dem überwältigenden und eindrucksvollen Konvolut "Beneath the Underdog" zunächst konventionell und glatt – sie erzählt auf ihrer subjektiven Erinnerung beruhend die Begegnung der wohlerzogenen Sue mit dem "wie eine Naturgewalt" über sie hereinbrechenden Musiker. Ihr Leben befindet sich zu diesem Zeitpunkt in einer Umbruchssituation, deshalb ist sie bereit für eine heftige Beziehung wie die sich anbahnende. Doch obwohl Mingus nach vielen Jahren des unsteten Wandererdaseins endlich eine "Beziehung mit einer Adresse" wünscht, kann sich Sue erst nach elf Jahren dazu entscheiden, Mrs. Mingus zu werden. Gerade noch rechtzeitig, denn schon bald erkrankt Charles Mingus schwer, die Krankheit fesselt ihn schließlich an den Rollstuhl, er kann nicht mehr spielen. Das Paar nutzt jede Chance, die Heilung verspricht, sei sie noch so obskur. Charles Mingus stirbt im Januar 1979, trotz aller Bemühungen und Behandlungen mit Leguanblut.
Dass Sue Graham Mingus mehr war als nur schmückendes Beiwerk an der Seite dieses Über-Musikers beweist sie bis heute: sie leitet mehrere Bands, die Mingus’ Musik spielen und widmet sich dem musikalischen Nachlaß ihres Mannes.