Die wunderbare Musikwelt des
Dirigenten, Komponisten und Produzenten
Christian von Borries
Christian von Borries, Jahrgang 1963, gilt als enfant terrible der deutschen Klassik-Szene. Das Feuilleton des Springer-Blattes Die Welt titulierte ihn gar nörgelnd „Schlingensief der Klassik“. Derartige Zuschreibungen erhellen das Schaffen des Wahl-Berliners mitnichten. Nach der klassischen Ausbildung hätte es sich von Borries als Solo-Flötist am Zürcher Opernhaus bequem einrichten können. Doch es kam anders: „Aber immer nur die gleichen Werke auf die gleiche Weise vor der Zürcher Bourgeoise zu spielen, das ging irgendwann nicht mehr. Man sitzt da in seinem Frack wie ein Kellner und serviert Musik. Letztlich wird man dafür bezahlt, dass man den Mund hält und nicht denkt.“ Von Borries zog es vor, weiter seinen Kopf benutzen zu dürfen und arbeitete fortan als Dirigent und Komponist. Statt klassische Werke zu interpretieren, sieht sich von Borries als „Musikbenutzer“ und erklärt den positiv konnotierten „Musikmissbrauch“ wie folgt: „Erst mit der Aufwertung von rezeptionsgeschichtlichen Zeugnissen, also dem Umgang und Wirken von Musik nach ihrer Entstehung, wird ein Teil der autoritativen Kraft preisgegeben, die zuvor dem Werk zu Unrecht zugeschrieben wurde. Da eine Trennung von Werk und seiner Geschichte unmöglich ist, muss die Fixiertheit auf den Notentext zu falschen Sicherheiten führen. Kein Werk ist vor seinem Gebrauch zu retten. Hier wird die Beschreibung, weil sie sich noch nicht auf Hörerfahrungen stützen kann, zwangsläufig unpräziser. Jedenfalls nimmt der Misreader den Adressaten ernst. Denn er versucht erfahrbar zu machen, wie der Gebrauch das Stück verändert hat. Diese Art der Deformierung interessiert ihn. Er fragt nicht nach der Intention des Stücks, sondern wird zum Benutzer (nicht: Interpret), um etwas zu erfahren, was außerhalb dieser angenommenen Intention liegt. Durch Veränderung des Kontextes macht er hörbar, dass sich die Aussage verändert hat. Deshalb wird für ihn der Notenkontext zweitrangig.“ Diese Form der Musiktheorie führt praktisch zu faszinierenden akustischen Räumen, in denen Sinfonie-Partituren mit „Soundalikes“ (Einspielungen) montiert werden. Von Borries gibt dem Publikum nicht, was es bereits kennt und in dieser Form schon unzählige Male konsumieren durfte. Seine Form der Musik erobert unbekanntes Terrain, scheint folglich klassische Avantgarde zu sein. Doch bereits Lyotard wies darauf hin, dass die Besetzung einer ästhetischen Kategorie mit einem militärischen Begriff einen unästhetischen Beigeschmack besitzt, ist von Borries Wirken sowohl pazifistisch, als auch gesellschaftsreflektierend: Macht- und Hierarchiestrukturen hinterfragend. Die generelle Zuschreibung der Musik als unpolitisch nimmt der Dirigent als „Dauerkrise“ wahr. Als Otto Beisheim, den die Presse gern als „scheuen Milliardär“ bezeichnet, vor einigen Jahren am Potsdamer Platz das Beisheim-Center mit zwei Fünf-Sterne-Hotels, exklusiven Büroflächen und Luxus-Apartments eröffnete, spielte nur wenige Meter entfernt von Borries zu einem Konzert auf, das die Irritation über die unklaren Verhältnisse zwischen Investorenmacht, Geschichte und Stadtplanung reflektierte. Beisheim gehören unter anderem die Metro AG, Galeria Kaufhof, Saturn und andere Elektromärkte. Im Jahre 2000 erhielt der angesehene Investor den Bayerischen und 2003 auch den Berliner Verdienstorden. Als junger Mann fungierte er als Angehöriger der 1. SS-Panzerdivision Leibstandarte Adolf Hitler. Die Ambivalenz zwischen der Geschichte des Investors am Potsdamer Platz - in direkter Nähe zum Holocaust-Mahnmal, aber auch zum ehemaligen Führerbunker interessiert von Borries, der sich mit der Psychogeographie direkt auf Guy Debord und die Situationisten bezieht. Hintergründe und Ästhetik erschließen sich in dem Buch, zu dem unter anderen Diedrich Diederichsen und Tim Renner Beiträge beisteuerten, hervorragend und geben einen Einblick in den faszinierenden Klangkosmos eines Ausnahmekünstlers.
Sabine Sanio, Martin Hossbach (Hrsg.):
Musikmissbrauch und Psychogeographie.
Die wunderbare Musikwelt des Dirigenten,
Komponisten und Produzenten Christian von Borries
Verlag Masse und Macht, Deutsch / Englisch