Raimund Berger

Ich wollte ein guter Mensch sein
(Wort im Gebirge, Schrifttum aus Tirol, Folge 12)

 

Ich bekenne mich schuldig, Herr Richter. Ich wollte ein guter Mensch sein, aber ich war es nicht. Im entscheidenden Augenblick habe ich versagt. Das kommt davon, daß ich einen Vorsatz hatte, nur einen einzigen lächerlichen Vorsatz an jenem Abend. Heute weiß ich es, das war mein Verhängnis. Der Mensch soll entweder viele Vorsätze haben oder gar keinen. Er kann sich vornehmen, eine Woche nur von Para­deisern zu leben, statt zu rauchen Gummi zu kauen, nur Hemden mit steifen Krägen zu tragen oder etwas Ähnliches, das alles kann er sich vornehmen, und er wird ein guter Mensch sein. Ich aber, Herr Richter, war kein guter Mensch, denn ich habe nichts dergleichen geplant. Ich hatte in meinem verruchten Hirn nur den einen Gedanken: Ich werde heute auf dem Jahrmarkt keinen Rasierapparat kaufen. Jawohl, das habe ich gedacht an jenem Abend. Es war nicht die Faser eines anderen Gedankens in meinem Hirn. Ich war ganz ausgefüllt von diesem einen, wie ich jetzt weiß, lächerlichen Vorsatz. Es pochte, es schlug, es hämmerte in mir: Du wirst dir heute keinen Rasierapparat kaufen, keinen Rasierapparat kaufen, keinen Rasierapparat kaufen ...

Ich muß Ihnen sagen, daß ich bis jetzt noch jedes Jahr vom Jahr­markt einen Rasierapparat mitgebracht hatte. Soviel ich mich auch wand und wehrte, man hat mir immer noch einen angedreht, und es war natürlich immer ein Patent, das am Ende nichts wert war. Es war also nur recht und billig, daß ich mir nun endlich vornahm, keinen zu kaufen. Das ist soweit recht und billig. Aber daß ich nichts anderes dachte, keinen anderen Gedanken hatte als jenen, eine einzige Flamme war jenes Gedankens; ein sturer Feind des Rasierapparats zu sein, das war mein Verhängnis, Herr Richter.
Ich bin ein einfacher Mensch. Ein ganz gewöhnlicher Mensch. Und so ein einfacher Kerl, der denkt nicht viel im allgemeinen. Aber an so einem Abend wie damals, Herr Richter, sagt man sich doch, verdammt, das ist ein Lüftchen, oder: da schau an, der geht auch auf den Jahrmarkt, oder: so ein Luftballon, der gehört dazu, oder: so ein Bündel Licht, das hat's in sich, das macht Stimmung, oder so was Ähnliches. Sie verstehn, wie ich es meine, Herr Richter. Ich bin ein einfacher Mensch, aber wie gesagt, dies und jenes denkt auch ein Simpel an so einem Abend normalerweise, Herr, Richter. Ich hab's nicht getan. Nicht hab' ich's getan. ich will keinen Rasierapparat kaufen', das ist alles, was ich gedacht habe damals, alles, alles, alles. Ein verrückter Teufel, ging ich hin ... Sie wissen wohin, Herr Richter, auf den Jahrmarkt.
Ich bin ein Mensch mit Gemüt, Herr Richter, meine Frau lag zu Bett an jenem Abend. Sie war noch schwach von der Geburt des letzten Kin­des, und irgendwie war ich traurig, denn es war ja gerade Jahrmarkt, wie gesagt, und ich bin eben ein Mensch von Gemüt. Und allein läßt man seine Frau nicht gerne, wenn man sie liebt. Aber da war ja Jimmi, der Neger, der gute Jimmi, der meiner Frau die Englischstunden gab und nicht einmal Geld nahm dafür. Jimmi, der Gute, der die Kinder so gern hat und die meinen besonders, alle vier, und das letzte, das Neugeborene ganz schrecklich, weil's so eine schwarze Haut hat wie er und krause Härchen und volle Lippen, ganz wie er. Ja, aber ich muß bei der Sache bleiben: Da war also Jimmi, der Neger, der brave Ami, der Kinderfreund, der bei meiner Frau bleiben wollte an jenem Abend, und so konnte ich also wohl mit gutem Gewissen auf den Jahrmarkt gehen, auch als Mensch-von Gemüt, Herr Richter.
Allerlei schönen Gedanken hätte ich mich nun hingeben können, als ich das Haustor hinter mir verschlossen hatte, allerlei schönen Gedan­ken, zum Beispiel: Wie wird sich meine Frau freuen, wenn ich wieder­komme, oder: Nun denkt sie wohl, daß ich ihr was mitbringe; oder denkt sie's vielleicht nicht? Nun, aber die Kinder werden jedenfalls glauben, daß ich ihnen was mitbringe. Türkischen Honig, gebrannte Mandeln und Luftballons, und für das kraushaarige Herzkäferchen eine kleine weiße Rassel ins Bettchen zum Randalieren.
Ja, so vielerlei Gedanken hätte ich mich überlassen können, Herr Richter, als ich aus dem Hause ging. Indessen, als das Haustor ins Schloß fiel, fing diese verfluchte Maschine in meinem Hirn zu hämmern an: Du darfst dir keinen Rasierapparat kaufen, keinen Rasierapparat kaufen, keinen Rasierapparat kaufen ...
Sie wissen, wie das ist, Herr Richter, wenn man plötzlich in einer Maschinenhalle steht, in einem Wandgeviert voll Lärm und teuflischem Rhythmus: Man ist selbst Lärm, selbst Maschine, selbst Schwungrad und selbst Vorschlaghammer, Stahlbohrer, Stanzkopf. Das wissen Sie, Herr Richter. Aber dann wissen Sie vielleicht auch, wie es ist, wenn man plötzlich aus einer Maschinenhalle ins Freie hinaus taumelt, in den Wind, die Musik, in den lichtzitternden Abend: Man ist selbst Wind, selbst Musik, Licht und zitternde Helle, ein Gesicht an einem Lampion, ich selbst, mein Gesicht. Eine Hand aus dem Dunkeln ins Helle, meine Hand. Der Mann neben mir mit den Luftballons, ich selbst. Ja, der Luft­ballon, der rote schwebende Ball im Abendwind, ich selbst, Herr Rich­ter, ich selbst. Sie werden mich vielleicht nicht verstehen, aber es ist gütig von Ihnen, daß Sie mir das Wort nicht verbieten, denn ich könnte Ihnen nichts anderes sagen über jenen furchtbaren Abend, nichts anderes.
Das blonde Mädchen, das so aussah wie eine kleine Pensionats­schülerin, stand ganz plötzlich neben mir, oder ich neben ihr, wie Sie wollen.
„Sie werden sich gleich die Finger verbrennen mit Ihrer Zigarre", sagte sie. „Sie sind ein netter Mensch", sagte sie, „aber Sie sollten sich einen Zigarrenspitz kaufen." Einen Zigarrenspitz ... sagte ich, oder sagte ich's nicht, ich weiß es nicht mehr, Herr Richter. Es ist auch nicht wichtig. Ich sah sie nur an, die Pensionatsschülerin, aber das schien mir plötzlich sehr wichtig, ungeheuer wichtig. Das Wichtigste, das es auf dieser Welt in diesem Augenblick gab für mich. Und sie sah mich auch an, Herr Richter, wir tauchten ineinander ein, so war es, schien mir, und die Musik flog an uns vorbei, und über uns schwebten die roten Luftballons.
Ich habe nicht viel in meinem Leben erlebt, Herr Richter. Ich bin armer Leute Kind,wie man so sagt. Ein paar Klassen Volksschule habe ich gemacht, dann ging ich in die Arbeit. Ich habe nicht viel gesehen vom Leben. Ich habe gearbeitet, und ich ging in die Kirche. Dann wurde ich Soldat, ich wurde verwundet, wurde wieder Soldat und geriet in Ge­fangenschaft, und als der Krieg aus war, kam ich nach Hause. Und zwischendurch hatte ich mir eine Frau genommen und bekam Kinder. Es war schließlich alles so, wie es wohl sein mußte. Darüber kein Wort. Aber wie ich nun da stand, an jenem Abend, am Jahrmarkt, vor dem Mädchen, dem einen, wie soll ich sagen ... ganz bestimmten einen Mädchen, unter den Luftballons inmitten der Musik, Herr Richter, da war es mir, als würde ich plötzlich aus meinem Leben, das so sein mußte bisher, heraustreten. Das war ungeheuer, ein unsagbares Ge­fühl, gefährlich vielleicht, ja sicher sogar. Aber vielleicht mußte auch das so sein, Herr Richter. Wenn man aus der Maschinenhalle kommt ... „Da nebenan können Sie eine Zigarrenspitze kaufen", sagte das Mädchen.
Eine Zigarrenspitze ... Warum soll ich eine Zigarrenspitze kaufen? Ach ja: Sie werden sich die Finger verbrennen, hatte sie gesagt. Aber war das nicht schon sehr lange her, sehr, sehr lange?
Ich kaufte die Zigarrenspitze, Herr Richter, hübsch verpackt bekam ich sie als die beste Zigarrenspitze der Welt überreicht. Ich glaubte es. Ich hätte alles geglaubt, was mit diesem Mädchen zusammenhing.
Aber wo war das Mädchen? Sie war ja gar nicht mehr da. Sie war verschwunden, war es möglich? Sie stand doch eben noch hier.
Auch das mußte so sein. Es war alles richtig so, alles richtig, wußte ich plötzlich. Irgendwie war Freude in mir, daß auch diese Enttäuschung zur richtigen Rechnung gehörte, und daß das Mädchen zu diesem Abend gehörte und nicht der Abend zu diesem Mädchen. Das wäre weit schlimmer gewesen, weit schlimmer, denn dann wäre das, was kam...
Aber, was war das? Da fing plötzlich wieder die Maschine in meinem Schädel zu toben und zu stampfen an. In meiner Hand, in dem geöff­neten Päckchen, hielt ich einen Rasierapparat. Die Maschine tobte, Wut brannte in mir hoch, und ich wurde mitgerissen von einem kreisen­den Schwungrad.
„Eine Zigarrenspitze habe ich verlangt", sagte ich leise zu dem Mann hinter dem Budentisch. Und mit den Worten stieg etwas hoch in meiner Kehle, das ich bisher noch nie verspürt hatte. Ein heißes, hartes Kügel­chen. Vielleicht ist der Zorn gar kein Gefühl, Herr Richter, das wir be­herrschen, sondern ein Organ, ein kleines kugelförmiges Organ, das uns bisweilen in die Kehle steigt und würgt.
„Da, drehen Sie den Griffhals und Sie haben Ihre Zigarrenspitze", sagte der Mann, „und einen Rasierapparat dazu. Rasierapparat und Zigarrenspitze in einem, geschenkt um die paar Schillinge, um die er gekauft ist."
Es tat einen hellen sausenden Pfiff, so, als wäre irgendwo ein Trans­missionsriemen vom Rad geflogen, und dann ...-Ja. Gott im Himmel, dann begann eine andere Maschine zu stampfen in mir. Kurz und hart im Takt und schmerzend: Gekauft ist, gekauft ist, gekauft ist...
Ich sehe keine Luftballons mehr, kein Gesicht an einem Lampion, das mein Gesicht war, keine Hand, die meine Hand war. Ich sah nichts mehr, wirklich nichts mehr. Die Räder der Maschine müssen mich blind geschlagen haben. Blind und irr. Ich schwöre Ihnen, daß ich mich sonst an nichts mehr erinnern kann. Aber wenn Sie es wissen, daß ich an jenem Abend meine Frau und das Kind in der Wiege ermordet habe, dann wird es so sein, Herr Richter. Ich bekenne meine Schuld, aber ich wollte es nicht tun. Ich wollte ein guter Mensch sein.

nach oben