Rezensionen 2003

Toni Bernhart, Lasamarmo und andere Stücke.
Innsbruck: Skarabaeus, 2002, 77 Seiten.

Das Theater Toni Bernharts ist keine moralische Anstalt mehr. Schon weit eher „eine ungesunde Anstalt, wo Kaffee getrunken wird und geraucht undsoweiter.“ Dann böte also das Theater auch kein Gegenbild mehr zum Leben? Kein Bild, das „bei der Vereinzelung und getrennten Wirksamkeit unsrer Geisteskräfte, die der erweiterte Kreis des Wissens und die Absonderung der Berufsgeschäfte notwendig macht“, noch einmal „gleichsam den ganzen Menschen in uns wieder herstellt“ (Friedrich Schiller), sondern nur noch ein Abbild unseres Lebens, ebenso schräg wie dieses? Bernharts Theater bietet auch kein Abbild. „Theater ist alles, nur nicht das Leben“, heißt es einmal im Szenario „Lasamarmo“.
Das Stück, das dem gesamten Band den Titel gibt, ist Kennern der Südtiroler Theaterszene längst bekannt. Es ist zuerst 1999 in dem Band „Leteratura Literatur Letteratura“ in Bozen herausgekommen und hat im selben Jahr in Brixen seine Uraufführung erlebt; für diese Neuausgabe hat der Autor dieses Szenario allerdings noch einmal (leicht) überarbeitet.– Der Band enthält darüber hinaus das Theaterstück „Sebastianskizze“ (aus der Sammlung „Schriftzüge. Texte des 3. Tiroler Literaturtheaters, Innsbruck 1997), das Hörspiel „Sadobre“ und schließlich auch einen bemerkenswerten, einen besonders lesenswerten Erstdruck: „Langes afn Zirblhouf“.

Handlungszusammenhänge, die man nacherzählen könnte, wird man in diesen Stücken ganz vergeblich suchen. Aber die Bilder, die Regieanweisungen, die Sätze, die man in diesen Stücken findet, verweisen ja auch gerade auf die Unmöglichkeit, der Komplexität des Lebens gerecht zu werden durch das gewohnte Erzählen, durch die gewohnte Verschriftlichung von Geschichten: Indem derartige Verschriftlichungen hier pausenlos zitiert und parodiert und denunziert werden, wird in erster Linie der Leser, der Zuhörer, der Zuschauer selber angegriffen. Das Theater-Publikum soll sich nämlich nicht mehr länger abfinden mit der gewohnten (moralischen), aber recht eigentlich doch faden Kost.

Das Dialektstück „Langes afn Zirblhouf“ verdankt seine Entstehung dem Versuch, „eine perfekte Kopie eines alten Wilderer-Stücks herzustellen“ (wie Bernhart selbst einmal notiert hat). Auf den ersten Blick kein sonderlich aufregendes Unterfangen. Aber was dabei am Ende, am Ende der Arbeit mit vielfach verkommenen Materialien herausspringt, ist nicht nur ein Stück, das in alten Theaterkulissen spielt, in alter Theaterzeit, vielmehr: Theater übers Theater. Theater pur. Ein Dialektstück (im übrigen: ein sprachlich perfekt gestaltetes Dialektstück), das keineswegs bloß an triviale, sondern zugleich auch an die herausragenden Zeugnisse des Genres anschließt.
Ein Volksstück, das die Tradition des Volksstücks aufnimmt und dabei gleichzeitig zerstört und ganz erneuert.
Es besticht durch eine Handlungsführung, die Überraschungen über Überraschungen bietet, durch eine Dialogführung, die nicht selten mit wenigen Worten ganze Abgründe sichtbar macht, vor allem jedoch durch beinahe stumme Bilder, die auf die besten Stücke von Kranewitter, Schönherr und Horváth zurückverweisen.
Das Stück ist kurz. Es wird in diesem Stück nicht viel geredet. Mehr gestorben. Am Ende kommen die Überlebenden mit dem Zählen der Leichen kaum mehr nach:

Frau 1: Wer mocht norr iatz die Begreibnis?
Frau 2: Woos Begreibnis? Vier Begreibnissn!
Frau 3: Wos redsch denn? Sechse sains!
Frau 1: I rechn, do muaß dr Bischof kemmen.
Frau 2: Dr Bischof! Marianna, tua di nit vrsindign! Dr Bischof kimmp gwiis it zu inz aui.
Frau 1: Sell wäarmr norr schun sechn! Dr Bischof kimmp gwiis.
Frau 3: Valaicht kimmp eppr grood dr Popscht!
Frau 2: Jessasmaria, dr Popscht!
Frau 1: Sell gäat nia!
Frau 2: Sell gipp a Prozessioun!
Frau 1: Und a Gipflmess!
Frau 2: Moansch, die Lait hobm Plotz int Kirch?
Frau 1: Wenn decht dr Meismr it seffl saufn tat!
Frau 2: Wer wäart denn in Popscht vrköschtign, wenn die Haisrin grod gschtorbm isch?
Frau 1: Naa, deis gäat nia! Dr Popscht kimmp gwiis it!
Frau 3: I rechn, dr Gailtoolr Kopratr wäart die Begreibnissn holtn.
Frau 2: Oh! Sell wäart schäan! Woasch, wia der schäan singen konn!
Frau 1: I gschpiir haint nou sain Primizsegn ibr dr gonz Kripp oi!
Frau 2: Deis gipp jo finf Tog long Begreibnis. […]

Aber in Dialogen wie diesen verrät sich, das versteht sich, weit mehr, als die Figuren preiszugeben denken, weit mehr, als den Figuren selbst bewusst wird. Ein verkümmertes Bewusstsein nämlich, ein Bewusstsein, wie es, auf der Ebene des Volkstheaters, indessen allzu oft Figuren eignet, die als Identifikationsfiguren charakterisiert sind. Damit jedoch kommt mehr als alles andere zum Vorschein die Kritik eines Theaters, dem Doppelbödigkeit gänzlich fremd ist.
Bernharts Drama ist demgegenüber doppelt doppelbödig. Denn es erweckt auch ziemlich lang den Eindruck, es könnte sich, auf den Spuren des neueren kritischen Volksstücks, zu einer Tragödie entwickeln. Um am Ende, indem es mehr und mehr sich als Spiel mit vorgefertigten, kopierten, zitierten Dialogpartien zu erkennen gibt, sich als Komödie zu entpuppen. Als eine Komödie, die Szene für Szene hartnäckig in Erinnerung ruft, in welcher Misere das Volkstheater steckt, das keinen Kunstanspruch mehr stellt.

Holzner Johann