Rezensionen 2007

Joseph ZodererLiebe auf den Kopf gestellt. Gedichte
München: Hanser 2007


Den neuen Gedichtband Joseph Zoderers mit wenigen Worten vorzustellen und dabei allen seinen Facetten auch nur einigermaßen gerecht zu werden, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Fast 100 Gedichte, allesamt vielschichtige Texte, die eine langsame, konzentrierte Lektüre verlangen, oft und oft von der Liebe reden, wie das der Titel des Bandes ja schon anzeigt, aber darüber hinaus alle zentralen Themen und Motive mitreflektieren und neu reflektieren, die aus den Erzählungen und Romanen des Autors schon wohlvertraut sind, diese Gedichte, in denen hin und hin von Narben und Schmerzen und Zweifeln die Rede ist und zwischendurch doch immer wieder Witz und Selbstironie und Übermut aufblitzen, entziehen sich souverän jeder knappen Charakterisierung.
Sie sträuben sich im Übrigen nicht weniger gegen jede Klassifizierung im Kontext der zeitgenössischen Lyrik. Das macht ihr Ton, ein ganz und gar unverwechselbarer Ton, der eben nur ihrem Autor eigen ist, einem Autor, der sich nicht im geringsten kümmert, der sich nicht kümmern muss um eine Platzkarte in der ersten Klasse der Literatur; denn er hat dort längst seinen Platz, er sieht sich also nie gezwungen, etwa durch intertextuelle Querverweise auf kanonisierte Vorbilder, auf prominente Vorläufer oder Mitspieler im literarischen Feld Aufmerksamkeit zu erregen, ihm genügt es vollauf, Wahrnehmungen und Erfahrungen, namentlich über die Spannungsverhältnisse Innen und Außen, Nähe und Ferne, Lust und Qual, Eros und Thanatos, Traum und Wirklichkeit zu ver-dichten. In diesen Gedichten ist nichts lediglich Angelesenes zu Papier gebracht, auf dass es immer noch raschelt, sondern Leben verdichtet.
Gleichwohl, zwei Prädikate drängen sich auf. Zoderers Verse sind ungewöhnlich hart und ungemein behutsam zugleich.
Diese Verse sind ungewöhnlich hart. Aber keineswegs in erster Linie jener Welt gegenüber, die das lyrische Ich aufmerksam, mit einer Hinneigung zum Detail sondergleichen beobachtet, in der das lyrische Ich lebt; auch wenn dieses  Ich gelegentlich Mordgedanken hegen mag, auf seinen Waldwegen, die leere Wodkaflaschen und Bierdosen säumen, oder auch nach der Lektüre der Schlagzeile „Bush und Blair: Der Krieg war rechtens“. Hart attackieren diese Verse zuallererst und zumeist das lyrische Subjekt selbst. – In einer der aufregendsten Passagen aus dem Roman „Der Schmerz der Gewöhnung“  entdeckt Jul, der Held dieses Romans, mitten in einer Debatte unter Verwandten über das Siegesdenkmal auf der Piazza della Vittoria in Bozen unvermittelt „den Faschisten in sich […], die Intoleranz, die Arroganz eines Rassisten. Und die Lust, sich wie ein Herr eines Stückes Land aufzuführen, wie ein Heimatbesitzer.“ Ähnlich erschreckende Beobachtungen registriert ab und an das lyrische Ich in diesen Gedichten, und ähnlich schonungslos stellt es sich bloß, reißt es die dünnen Wände zwischen der intimen und der sozialen Welt nieder. Das einzige Interpunktionszeichen, das hin und wieder in diesen Gedichten zu finden ist, ist das Fragezeichen. Das Ich stellt sich auch den quälendsten Fragen.
Diese Verse sind also ungewöhnlich hart. Sie sind jedoch gleichzeitig ungemein behutsam, nämlich wo es darum geht, und es geht in jedem Vers darum, Wahrnehmungen in Worte zu fassen oder auch aus dem Zusammenspiel der Wörter Wahrnehmungen erst zu gewinnen. – Die vielleicht schönste Geschichte aus dem Band „Der Himmel über Meran“, die Erzählung „Die Nähe ihrer Füße“, ist die Geschichte eines Liebespaares, das sich trennt; und doch die Geschichte einer Beziehung, das macht der Schluss dieser Erzählung deutlich, die nicht endet. Der Erzähler jedenfalls weigert sich, das Ende der Geschichte zu erzählen. Die Oszillation, die dieser Geschichte ihren ganz besonderen Reiz verleiht, ist das Signum der Poetizität auch in den Gedichten des Bandes „Liebe auf den Kopf gestellt“.
Die Dinge auf den Kopf zu stellen, das Gemeine vor dem Absturz in den Orkus zu retten und aufzuheben, die Grenzen zwischen dem Wirklichen und dem Imaginierten zu verwischen, das ist zunächst einmal vielleicht bloß ein Spiel. Aber was das lyrische Subjekt in diesem Spiel erlebt, prägt sein Leben.
Zusammenfassend: Diese Gedichte verlangen eine langsame Lektüre und sie laden dazu ein, sie wieder und wieder zu lesen: vor und nach den Schrägstrichen, die den Rhythmus der Verse bestimmen, nach Möglichkeit inne zu halten und vor und zurück zu schauen, zu achten in jedem Fall auf die spannungsreichen Beziehungen zwischen den Wörtern und Sätzen, auf die Beziehungen zwischen den Menschen. 

Johann Holzner