Rezensionen 2007
Bettina Hofer, Christina Lienhart: Idealistisch und wagemutig. Pionierinnen im SOS-Kinderdorf.
Innsbruck: StudienVerlag 2006, 307 Seiten
Kürzlich ist sie sogar in die Zeitung gekommen, in die Wochenend-Ausgabe vom 17./18. März 2007. Nikolaus Paumgartten, junger Redakteur der Tiroler Tageszeitung, titelt: «Tante Imma hat Kinder in aller Welt.» Soll es ruhig alle Welt wissen. Alle Welt? Zumindest die LeserInnen des Lokalteils, wo sie in der Serie «Menschen aus der Nähe» porträtiert wurde. Und da steht es dann auch gleich, in der Mitte der ersten Spalte: «Die 1921 im Südtiroler Brixen geborene Imma von Unterrichter gilt als Pionierin der SOS-Kinderdorf-Bewegung. Auch wenn sie das nicht so gerne hört. ‚Ach was, ich bin doch keine Pionierin’, winkt sie verlegen ab und lächelt bescheiden.»
Immerhin: Sie hat ab 1960 das SOS-Ferienlager in Caldonazzo mit aufgebaut und verwaltet. «Morgensport, singen, dann unter die eiskalte Dusche, anschließend gab’s Frühstück und der Tag konnte beginnen!», erinnert sich Olga Cracolici, die als kleines Mädchen dabei war und jetzt Leiterin der Abteilung Qualitätsentwicklung SOS-Kinderdorf ist (S.172). Das liest man nun nicht mehr im umfangmäßig begrenzten Zeitungsporträt, sondern in einer Publikation, die Tante Imma und weiteren 14 Kolleginnen breites Augenmerk angedeihen lässt. Recherchiert haben die detailreichen Biographien Bettina Hofer und Christina Lienhart, beides Erziehungswissenschaftlerinnen, die am Sozialpädagogischen Institut von SOS-Kinderdorf tätig sind.
Im Beitrag zu Imma Unterrichter erfahren wir unter anderem, dass die SOS-Ferienlager für die Kinderdörfler auch als Urlaub von der mutterzentrierten Erziehung gedacht waren. Es sollte zumeist männliche Betreuer geben und es herrschten strenge Zucht und Ordnung. Zu Beginn der 1980er Jahre verschärfte sich diesbezüglich die Kritik der Erziehenden. «Dann ist diese antiautoritäre Erziehung gekommen. Da sind die Dorfleiter gekommen und da hat’s geheißen, die Kinder sollen selbst entscheiden und man darf den Kindern nichts aufzwingen. In den Ferien sollen die Kinder das genießen und sollen sich selbst beschäftigen können. Man hat’s gesehen. Die kleinen Kinder sind rumgesessen und haben geweint. Dann hast du Zelte mit Schnitten gesehen. Viele Kinder wussten nichts mit sich selber anzufangen. Von dieser antiautoritären Erziehung ist man dann auch wieder ganz abgekommen. Man hat dann wieder mit den Kindern was unternommen, es ist wieder gespielt worden. Die Erwachsenen haben sich eingemischt und haben mit den Kindern mitgespielt.» (S.177)
Mit dieser Erfahrung befinden wir uns bei aller Frauengeschichtsschreibung, die den AutorInnen angelegen ist, mitten in der Gegenwart. Auch Andrea Bischoff gesteht in ihrem «Lexikon der Erziehungsirrtümer. Von Autorität bis Zähneputzen» aus 2005, dass «die antiautoritäre Erziehung oft ein hochtrabender Ausdruck dafür war, dass die Erziehung der Kinder schlicht vernachlässigt wurde.» Längst leben wir wieder in einer Zeit, die Disziplin lobt - Bernhard Bueb lässt grüßen - und selbstverständlich auch kritisiert. Darum, um diesen Pädagogenzwist im engen Sinn, geht es hier freilich nicht. Es geht - um es mit Worten von Imma Unterrichter zu sagen - darum: «Pionierinnen, das sind Frauen, die eine neue Sache aufbauen. Die Frau Heissenberger oder die Frau Sinnhuber, das sind Pionierinnen … Ich bin hingekommen und habe zugepackt, wo gerade etwas zu tun war.» Es geht um die zupackende Begeisterung für die Sache Hermann Gmeiners - und die wird in den Porträts spürbar, ohne für die LeserInnen penetrant zu wirken (was bei solcherart Publikationen leicht passieren kann).
Die Gegenwartsbezüge in der Vergangenheit sind trotzdem sehr interessant, und interessant sind auch die Kontexte, welche die Autorinnen zu Beginn (und unterstützt von der Politologin Alexandra Weiss) geben. Hier geht es z.B. um Frieda Duensings Sager «Die soziale Arbeit ist das Amerika der Frau», denn: «Sie erkannte die Möglichkeiten der Frauen zur Pionierarbeit, zur Eroberung, zur Eigengestaltung immer neuer Arbeitsfelder und somit Handlungsspielräume, die Frauen zu dieser Zeit sonst kaum vorfanden, wenn es um außerhäusliche Erwerbsarbeit ging.» (S.24) Heutigen Tages wird den Frauen dieses «femininisierte» Amerika einerseits zum Vorwurf gemacht, andererseits drängt man sie in die Domänen Soziales und Erziehung. Wieder lässt sich aus der vorgeführten Geschichte ein Gewinn für die Gegenwart schöpfen. Und man sieht: Beiträge zur vergessenen Frauengeschichte sind wichtig und umso bemerkenswerter, wenn sie so unaufgeregt selbstverständlich daherkommen, wie dieser.
Bernhard Sandbichler