Rezension 2009
Peter Oberdörfer, Mauss. Roman
Bozen: Edition Raetia 2009
Marquis de Sade, 17 Morde und ein Titelheld, der lieber Fisch als Fleisch isst
Friedrich Mauss, Titelheld von Peter Oberdörfers zweitem Roman, ist als Theaterautor zu wenig prominent, um auf dem Radar der Klatschpresse aufzutauchen, aber bekannt genug, um im Nationaltheater der Hauptstadt aufgeführt zu werden. Sein aktuelles Stück „Temperatur der Wahrheit“ handelt von Marquis de Sade, womit die Romanfigur Mauss eine Gemeinsamkeit mit seinem Schöpfer teilt: Peter Oberdörfers gleichnamiges Stück über den Marquis ist 2005 erschienen. Und tatsächlich spielt das Stück im Roman eine prominente Rolle: Von der ersten Besprechung mit dem Dramaturgen über die rituelle Verbrennung des umfangreichen Recherchematerials im Garten bis zu den Proben im Theater erleben die LeserInnen mit Mauss die Entstehung des Stücks hautnah mit. Sie bekommen Einblick in die Arbeitsweise eines Schriftstellers und durch Proben aus dem Text Einblick in das Stück.
Mit den Proben, denen Mauss als stiller Zuhörer beiwohnt, beginnt für den Protagonisten eine turbulente Zeit. Er, der seit seiner Scheidung von Nina zurückgezogen am Land lebt und ein einsames Haus am Waldesrand bewohnt, den Kontakt zu den Dorfbewohnern auf die unumgänglichen Gespräche beim Einkaufen beschränkt, alle Einladungen zu Dorffesten ausschlägt und sein vermeintliches Image als „schrulliger Sonderling“, „kauziger Eigenbrötler, vielleicht Schlimmeres“ pflegt, beginnt eine Beziehung mit der mindestens zwanzig Jahre jüngeren Darstellerin der Juliette, Verena Stein. Gleichzeitig macht eine Organisation namens „Christliche Aktion“ gegen sein Stück mobil, er erhält einen Drohbrief und eine Mordserie befördert die Stadt in den Ausnahmezustand. Die scheinbar unmotivierte und ziellose Hinrichtung eines jungen Pärchens im Votivpark, eines alten Bauern bei einer Kiesgrube, eines holländisches Touristenehepaars auf offener Straße, eines zukunftsfrohen Sportschwimmers in der Schwimmhalle, einer vierköpfigen Familie im Schlaf und sechs betagter Kirchgänger und des Meßners vor dem Frühgottesdienst bringt Stadt- und Kirchenoberhäupter, einen Fernsehsender, einen klischeebehafteten populistischen Politiker, Jugendbanden und eine Bürgerwehr auf den Plan, schließlich scheint sich die ganze Stadt zu einem einzigen Demonstrationszug zu formieren, gegen den die Polizei aufmarschiert.
auss zieht das Grauen an: So wie er sich wenige Monate zuvor intensiv mit Marquis de Sade auseinandergesetzt hat, so wird jetzt die Beschäftigung mit den Morden zur Beinahe-Obsession: Er beginnt kriminalistische Bücher über Serienmorde zu lesen, besucht die Tat- und Fundorte, legt Blumen nieder und fotografiert, spricht mit Angehörigen der Opfer, recherchiert akribisch. „Etwas in ihm genoss diese Morde. Das beunruhigte ihn. Und darüber hatte er zu schreiben. Er gestand es sich ungern ein, so wie er es sich ungern eingestanden hatte, dass irgendetwas in ihm die Anschläge vom 11. September genoss. Er verabscheute dieses tausendfache Morden, natürlich, aber das war nicht alles. Er konnte sich ehrlich empören über diesen ungeheuerlichen Anschlag, er konnte Mitleid mit den Opfern und ihren Angehörigen empfinden, und dennoch war da auch diese Lust.“ Diese Lust am Grauen, die nicht nur Mauss, sondern auch die Medien und Politik erfasst, ist ein zentrales Motiv im Roman. Ebenso wie die Angst: Angst hat Mauss nachts in seinem einsam gelegenen Haus ohne Alarmanlage, Angst hat er in der noch jungen Beziehung mit Verena, ob sie die gemeinsame Nacht als Fehler ansieht, Angst hat er um sie, als er sie im Chaos der Demonstration verliert, eine kollektive, diffuse Angst, ausgelöst durch die Morde, führt in der Bevölkerung zur Massenhysterie und Anarchie. Oberdörfer tippt diese Phänomene in seinem Roman aber nur an: Er analysiert nicht, sucht keine Erklärungen, übt keine Kritik, lässt seinen Protagonisten nicht tiefgründig reflektieren, er bleibt beschreibend an der Oberfläche, sodass die Versprechungen des Klappentexts, Mauss sei ein „spannender, gesellschafts- und medienkritischer Roman, der die Brüchigkeit des Alltags seit 9/11 aufzeigt“, nicht eingelöst werden. Auch die versprochene Spannung wird nicht bis zum Ende durchgehalten: Der eigens eröffnete Erzählstrang, in dem Betroffene über ihre ermordeten Angehörigen oder über das Auffinden der Leichen berichten, versandet nach temporeichem Start mit der haarsträubenden Bilanz von 17 Morden schon im ersten der drei Bücher des Romans. Da sich die Mordberichte immer wieder in Mauss’ Geschichte schieben, obwohl sie ein Jahr später stattfinden, liegt der Verdacht nahe, Mauss könnte in die Morde verwickelt sein. Dieser wird auch noch geschickt genährt durch Mauss’ außerordentliches Interesse an den Hinrichtungen, sein mehr als einmal artikulierter Gedanke, er habe Lust jemanden umzubringen und der Verdacht der Nachbarn, er sei möglicherweise Schlimmeres als ein Sonderling. Leider spinnt der Autor auch diesen Faden nicht bis zum Ende: Die Zensur in Maussens Kopf revidiert jeden Mordgedanken prompt, sein Schreiben ist sein Ventil, und spätestens seit er um Verena wirbt, ist klar: bei diesem Mann, der das Wasser liebt, lieber Fisch als Fleisch isst, Bücher, Kino und Musik mag und gerne Anekdoten aus seinem Schriftstellerleben erzählt, handelt es sich um einen Durchschnittsbürger, dem keine nennenswerten Geheimnisse und Abgründe, dafür aber wohl eine gewisse Fadesse nachgesagt werden können. Zu diesem Zeitpunkt sucht Mauss allerdings auch nicht mehr das Verbrechen, sondern die Liebe, womit der Roman die im ersten Buch stark präsenten Elemente des Kriminalromans endgültig abgelegt hat. Ob Mauss die Liebe findet, bleibt wie alles andere im Roman durch ein unvermitteltes Ende offen.
Fazit: Zu viele offene Baustellen (eine Mordserie, Anarchie in der Stadt und eine Liebesgeschichte, alle mit offenem Ausgang), abrupt abgebrochene Spannungsbögen, ein loser zweiter Erzählstrang und die Unentschiedenheit zwischen verschiedenen Genres sind klare Schwächen des Romans. Mauss’ klare Devise „lieber Fisch als Fleisch“ hätte dem Roman gut getan.
Ruth Esterhammer