Rezension 2009
Alois Schöpf, Die Sennenpuppe. Libretto zur Oper in drei Akten für Blasorchester und Sänger von Ernst Ludwig Leitner
Hohenems: Limbus Verlag 2008
Der Komponist Ernst Ludwig Leitner hat für die Gmundner Festwochen eine Blasmusikoper geschrieben, die im August 2008 unter der Regie von Erich Hörtnagl uraufgeführt wurde (Bläserphilharmonie Mozarteum Salzburg, dirigiert von Hansjörg Angerer). Das Libretto stammt vom Tiroler Schriftsteller und Blasmusikexperten Alois Schöpf, der Text, die Sage von der so genannten Sennenpuppe (schweizerisch auch Sennentuntschi oder Toggeli) ist in einem schmalen Band, der unlängst bei Limbus erschienen ist, nachzulesen.
Diese Sage ist höchst interessant, der Stoff steht mit dem antiken Pygmalion-Stoff (Ovid, Vergil) in Zusammenhang und wurde im Lauf der Kulturgeschichte immer wieder und sehr variantenreich verarbeitet – bis herauf zu George Bernard Shaws Schauspiel „Pygmalion“, besser bekannt als Musical „My Fair Lady“. Kern des Stoffes ist: Der Mensch überschreitet seine Kompetenzen, er schafft sich ein Ebenbild, erweckt es zum Leben und wird dafür bestraft. Alois Schöpf orientiert sich an der alpenländischen Ausformung der Geschichte, er gibt ihr einige neue Konturen und arbeitet mit den Widersprüchlichkeiten der Vorlage. Felix Mitterer hat, um weitere Beispiele zu nennen, in seinem Stück „Die wilde Frau“ Elemente der Sage aufgegriffen und der Schweizer Dramatiker Jörg Schneider hat seinen „Sennentuntschi“ daraus gestaltet.
Es gibt im Alpenraum verschiedene Versionen der Sage, zentral sind meist folgende Punkte, u.a. die erotische Komponente: Einsame Sennen und Hirten auf einer Alm – früher arbeiteten meist nur Männer auf den hoch gelegenen Almen – schnitzen sich aus Langeweile eine weibliche Puppe, die sie füttern, mit der sie sprechen und die sie für erotische Spiele gebrauchen. Mit der Zeit wird die Puppe lebendig und rächt sich für die an ihr begangenen Sünden, sie zwingt einen der Hirten im Herbst bei ihr zu bleiben, tötet ihn und zieht ihm die Haut ab. Zieht ihm die Haut ab, zieht ihm die Haut vom Leib – diese mehrfach gegebene Formulierung (siehe diverse im Internet nachzulesende Sagendarstellungen) scheint nicht ganz zufällig zu sein, zumindest dann nicht, wenn man sich Schöpfs Text etwas genauer auf seine Bedeutungsmuster hin ansieht. Schöpf modernisiert den Stoff dahingehend, dass nicht die sexuelle Ausschweifung, sondern Missbrauch und Verrat bestraft werden. Der Missbrauch, wie er hier vorgeführt wird, ist letztlich ein Verrat an der eigenen Lebendigkeit und Liebesfähigkeit. Das zunächst recht klischeehaft zwischen Madonna und Hure angesiedelte weibliche Bild einer lebensgroßen Holzpuppe (S. 14 und 15) wird ein zum Leben, zur Autonomie erwachter Mensch (S. 18f) und geht in Schöpfs Version den Männern tatsächlich unter die Haut.
Im ganzen 2. Akt feiert die Oper nämlich die Liebe als das eigentliche Leben. Die Frau wird von den Männern abwechselnd beschlafen, sie dient im Haus außerdem als Magd. Dies führt jedoch keineswegs zu Verrohung, etwa zu Konkurrenz und Gewalt oder zu Unterdrückung und Pornografie. Nicht hier ist der Missbrauch angesiedelt, im Gegenteil, es scheint nicht nur Solidarität unter den Männern, sondern auch Harmonie zwischen den Geschlechtern zu herrschen. Die Protagonisten bewegen sich in einer Sphäre zurück erworbener Unschuld, sie handeln jenseits aller Konventionen. Es ist ein dünner Boden zwar, doch ermöglicht er bei den Männern eine Aufweichung üblicher Verhaltensmuster, eine Öffnung der vorher geschlossenen Charaktere, ein Schmelzen der vereisten Herzen. Selbsterkenntnis ist die Folge, und zwar nicht nur bei den Männern, sondern auch bei der Frau. Der biedere und vernünftig verheiratete Bauer ist dankbar, dass er „zumindest einmal von dieser Liebe kosten durfte, von dieser Liebe, die das Leben ist und sonst nichts als das Leben“ (S. 21). Der Hirte, ein sonst zupackender Frauenheld, schwärmt vom „zärtlichen Lufthauch“, der „die Blumen schaukeln lässt“, erst jetzt weiß er gelebt zu haben, seit er „lieben durfte“ (S. 23f). Der Junge, der die Puppe geschnitzt hat, hat zuvor noch nicht geliebt, jetzt ist er erfüllt und beseelt wie die anderen, gemeinsam singen sie alle drei in den nächtlichen Sternenhimmel hinein: „Wir wollen ihr danken für ihre Liebe!“ Die Puppe ihrerseits feiert ihre Befreiung aus einer „Jahrhunderte langen (…) Erstarrung“: „Und so wie du, mein junger Freund, von meiner Liebe nichts gewusst hast, so habe ich nicht gewusst, wie wunderbar und schön das Leben ist. Niemals will ich es wieder zurückgeben…“. Die Liebe wird hier, in Alois Schöpfs Libretto, gezeigt als das – um es in einer religiösen Sprache auszudrücken – Mittel zur Menschwerdung, als die gegenseitige Erweckung aus dem nur Materiellen, aus der seelischen Erstarrung.
Doch das Erleben allein bewirkt keine anhaltende Transformation. Der Wille zur Überwindung gesellschaftlicher Schranken und alt eingeschliffener persönlicher Gewohnheiten müsste nachfolgen. Die Tür zum Universellen, die Schöpf im 2. Akt sehr emphatisch und auch ironisch-pathetisch geöffnet hat, wird im 3. Akt leider wieder geschlossen – vielleicht weil dies realistischer ist? Der Sommer ist aus, die Männer müssen und wollen ins Tal zurück, Pflicht und Neigung lässt sie all drei ausschließen, ihre doch soeben noch schwärmerisch geliebte Sennenpuppe mitzunehmen. „Ich kann die Frau nicht gebrauchen!“ (S. 31) ruft plötzlich einer nach dem anderen aus. Die Gründe für diesen schnöden Wechsel der Gefühle mögen aus der bürgerlichen Perspektive nachvollziehbar sein, doch das universelle Prinzip hat bei der Tür herein geschaut, es lässt sich nicht so einfach wieder hinaus sperren, ist es doch dem Leben verpflichtet und nicht der Konvention: Wer das Lebendige in sich selbst verrät, leitet seine eigene Destruktion ein.
So könnte man das alles lesen, soweit ergibt es durchaus Sinn und obendrein einen starken Stoff für eine musikalisch hochkomplexe Oper. Nur leider wird einiges auf der Textebene im 3. Akt wieder zurückgenommen. Alois Schöpf hat die Sage traditionell eingeführt, sie dann modern ausgelegt, was spannend ist. Er hätte, nach meinem Geschmack, den bereits eingezogenen zweiten Boden weiter ausdehnen, ihn nicht etwa wieder herausziehen sollen. Musikalisch mag es hundert Prozent stimmen und mehr als interessant sein, wenn der Komponist moderne Musik schreibt, dabei aber alte Volksmusikthemen und Instrumente des Alpenraums wie Alphorn, Flügelhorn und Zither einsetzt. Literarisch hätte man am Schluss gern etwas anderes gesehen als die Erfüllung traditioneller Vorgaben und moralinsaurer Lehrinhalte.
Die Puppe erlangt kraft ihres Zorns Macht über Leben und Tod. Sehr im Gegensatz dazu und wenig überzeugend ist ihre Diktion das Jammern einer verlassenen Frau: „Alles hab ich euch gegeben. Ist das der Dank? Nein, das kann der Dank nicht sein! Ich will nicht allein bleiben! Nimmer ein Stück Holz werden.“ (S. 35) Ihre Rache mutet einerseits kleinkariert, andererseits überzogen an, was sie in den Augen der Männer zum Teufel macht: „Sie ist kein Mensch, sondern ein Ungeheuer!“ (S. 37) Zuerst sieht es so aus als wolle sie, selbstsüchtig wie sie ist, weiter feiern und lieben: „Einer von euch wird mich immer lieben müssen, den ganzen Winter lang, bis die anderen wieder kommen. Das Leben schmeckt mir zu gut…“ (S. 36). Bald stellt sich aber heraus: Sie will morden. Sie lässt würfeln, es ist ihr egal, ob Junge, Hirte oder Bauer bei ihr bleibt. Die Männer haben dem nichts entgegen zu setzen, sie führen alles aus, was man ihnen befiehlt, einer kommt dran, die anderen fliehen und beobachten aus der Ferne die grausame Ermordung des Freundes. Schließlich hängt die Haut des Jungen auf dem Dach der Hütte – Symbol für den gewaltsamen Verlust einer verlogenen Hülle, Symbol für ein ausgesaugtes Leben?
Nirgendwo blitzt am Ende ein Erkennen auf, alles ist wieder unter Dach und Fach, hinter Schloss und Riegel. Die Lesart, die einem hier aufgedrängt wird, ist die althergebrachte: Da gibt es eine beleidigte und in der Folge bösartig gewordene Frau, die die Männer zu Tölpeln macht oder sie vernichtet. Da gibt es auch womöglich eine gerechte Strafe für allzu viel Sündigen. Die tiefer liegende Dimension, dass nämlich die Puppe/Frau deshalb zum Ungeheuer wird, weil sie ihre eigene Vergänglichkeit nicht akzeptiert, weil sie dem Schöpfer zürnt, der sie erst leben lässt, nur um sie dann wieder ins Nichtsein zurückzuwerfen, wird nicht herausgearbeitet.
Alles in allem ist Alois Schöpfs Interpretation der Sennenpuppe zugute zu halten, dass sie offen genug ist, um eine Diskussion oder ein Nachdenken über das Geschlechterverhältnis und das nie zu Ende gedachte Thema Liebe und Tod anzuregen. So gesehen ist das kleine, übrigens sehr wohlfeile, Buch eine empfehlenswerte Lektüre. Die Oper – wer sie in Gmunden gesehen hat, wird es bestätigen – ist freilich ein anderes Kaliber, man freut sich zu hören, dass das Werk bei den Tiroler Festspielen Erl, am Mozarteum Salzburg und im Stadttheater Wels nachgespielt werden wird.
Erika Wimmer