Anna Stecher, zŏuba! Sanwen-Prosa
Bozen: Edition Raetia, 2005
„Gehen Wir“, so lautet der Titel von Anna Stechers druckfrischem Prosaband. Ein schöner Titel. Eigentlich ist es jene Aufforderung, die am Beginn eines jeden Buches, jeder Erzählung, jeder Kurzgeschichte, jeder dramatischen Arbeit und jedes Gedichtes stehen müsste oder tatsächlich steht: „Gehen wir, komm mit, ich zeige dir etwas, das dich staunen lässt, das dich zum Lachen oder zum Nachdenken bringt, das dir gefallen wird oder das dir möglicherweise auch ganz und gar nicht gefallen wird.
Gehen wir, das ist die Aufforderung der Schriftsteller an die Leser, gemeinsam eine Reise anzutreten. Manchmal wird daraus tatsächlich eine Reise, mitunter auch nur ein kleiner Spaziergang, bevor der Regen losbricht oder auch nur ein zaghafter Schritt vor die Tür, weil man gleich merkt, dass es nicht lohnt, sich reisefertig zu machen und deshalb die Lektüre schnell wieder aus der Hand legt.
Wenn Anna Stecher in ihrem Buch uns auffordert: „Gehen wir“, so entführt sie tatsächlich auf eine Reise, in erster Linie auf eine Reise nach China, insbesondere nach Peking, wo sie ihr Masterstudium im Fach „Moderne und zeitgenössische chinesische Literatur“ absolviert. Gleichzeitig ist es eine aufregende, abenteuerliche Reise, die Leser zuerst einmal weit weg führt von sich selbst. Denn auf die eigenen Sinne kann man sich mit fortschreitender Lektüre schon bald nicht mehr verlassen. Im Gewusel der fremdländischen Städte, von denen Anna Stecher erzählt – mögen sie in China sein oder anderswo - könnte man schnell die Orientierung verlieren, alles gerät einem durcheinander. Fragt man zum Beispiel eine schöne, junge Frau nach dem Weg, könnte es durchaus sein, dass man in Wirklichkeit eine Katze in Menschengestalt vor sich hat, die einem den Weg über die Dächer weist, sodass sich schon bald gefährliche Abgründe auftun. In Hotelzimmern lauern gefräßige Krokodile, Gespenster treiben sich herum, und immer wieder gibt es schwierige Prüfungen zu bestehen, die durchaus geeignet sind, sensiblen Gemütern den Angstschweiß auf die Stirn zu treiben.
Aber in Anna Stechers Begleitung - und das ist für eine so junge Autorin in höchstem Maße erstaunlich – fühlt man sich dennoch vom ersten Moment an sicher, man vertraut sich ihr ohne zu zögern an, folgt ihr bedenkenlos auf Schritt und Tritt, auch über Dächer und gefährliche Abgründe hinweg. Man merkt sofort, sie kennt sich hier aus, sie ist hier zuhause, sie ist vor allem in der Sprache zuhause.
„Mein Haus“, sagte die Ich-Erzählerin in der Erzählung „Zhuang Youang oder die kaiserliche Prüfung“, „baut sich wie Eschers Gebäude: vom ersten Stock in den zweiundvierzigsten, dann geht eine Treppe ins Klo, im Schlafzimmer steht ein Pferd und in der Garage der Kamin.“ Das mag auch auf die assoziative Erzählweise der Texte in diesem Buch zutreffen – eine Art zu schreiben, die sich in China Sanwen nennt - aber das Fundament trägt, das Fundament ist die exakte Kunst der Sprache. Nur durch Genauigkeit und sorgfältige Bemessung können sich in einem derart verrückten Haus ohne Einsturzgefährdung die großen, von Licht durchfluteten Freiräume zur Interpretation auftun, wie sie Anna Stechers Texten zu eigen sind. Ein Haus, wo man sich nicht ängstigt, wenn man sich darinnen verirrt, weil es von einem wundersamen Raum in den nächsten geht, ausgestattet mit Poesie und Ironie, und einen Ausgang hat, wie man weiß, ohnedies jede Geschichte.
Wenn sich dann auch noch ein Schmetterling auf dem Sims niederlässt, ist es gewiss einer von jener Sorte, die mit ihrem Flügelschlag ein Beben auszulösen imstande sind, in diesem Fall ein sanftes Beben der Erwartung auf den nächsten Satz, die nächste Erzählung, den nächsten wundersam sich öffnenden Raum.
Die Reise beginnt in der Stadt der Katzen, wo gerade die Katzenseuche wütet und sich die Menschen in ihren vier Wänden verschanzen, um das Risiko der Ansteckung so gering wie möglich zu halten. Längst angesteckt vom Virus der Poesie erkundet man das Yin und Yang der Schmetterlinge in Peking, wo man schnell merkt, dass das Parfüm von Chanel zu schwach ist für diese Stadt, denn Pekings Luft ist dicht angefüllt mit den stärksten Gerüchen. Eine andere Stadt ist voll von dicken, großen, frechen Hunden, die am liebsten Sachertorte essen, was ihrem Gebell nicht gut bekommt. Man besucht u.a das „Land der zeitlosen Uhren“, begibt sich zwischendurch mit Fräulein Coco ohne Visum auf Europareise, wohnt der Geburt eines Clowns bei und bekommt es mit dem „Gesetz der Esel“ zu tun, welches einen nicht weiter beunruhigen muss, insofern man weder eine chinesische Dichterin noch ein chinesischer Dichter ist, denn nur diese werden als Esel ins Grasland der Inneren Mongolei geschickt, weil der Staat sich die Dichter nicht mehr leisten kann oder leisten möchte:
„Yue Feng war also verwandelt worden, in einen Esel, auf Grund des Gesetzes. Ob man Berufung einlegen könnte? Mein Kopf dröhnte, ich konnte das alles nicht verstehen. Ich hatte mir niemals Sorgen um Yue Fengs Beruf gemacht, er tat ja keinem etwas zu Leide, und von der Warnung hatte er mir niemals erzählt. Was er jetzt wohl im unendlichen Grasland anfangen würde? Ob er sich immer noch Gedichte ausdachte? Oder vielleicht lief er mit einigen jungen Eselinnen um die Wette und dachte nicht mehr an seine Gedichte, er konnte sie sowieso nirgends aufschreiben, höchstens in den Wind konnte er sie singen, doch bis sie in die große Stadt gelangten, im Frühjahr, hätte der Wind die Worte in alle Richtungen verweht.“
Sollte es das Schicksal der Dichterinnen und Dichter sein, dass ihre Worte vom Wind verweht werden, bevor sie noch in die große Stadt gelangen, so ist zu hoffen, dass Anna Stechers Texte auf diesem Weg zumindest so viele LeserInnen wie möglich finden.
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