Als Opi gehöre ich nicht mehr zu euch Jungen. Mit Frau, Haus, Garten und erwachsenem Sohn scheine ich fest im Bürgertum verortet und damit auch Spezi für Dekadenz zu sein. Und für Zahnverlust: Ober- und Unterkiefer sind zahnlos. Prothesen mussten her. Eines Tages meinte meine Holde, unser bescheidener Wohlstand ließe sicherlich eine komfortablere Lösung zu. Für den Halt der Prothesen gäbe es Implantate. Damit höre wenigstens die Klapperei beim Essen und auch das Wühlen mit der Zunge auf.
Gesagt, getan. Ein Schönheits- und Kieferchirurg, der beste in der Stadt, versprach einen “bombenfesten” Halt bei der preiswerten Lösung mit zwei Implantaten. Lokatoren würden für eine ausreichende Verbindung der Prothese sorgen. Mit schlappen 5.000 Euro war ich dabei. Denn eine Privat-Versicherung hatte ich mir nicht leisten können. Nun würden die letzten Lebensjahre ein Schlemmergenuss werden. Vier Implantate, nein, das wäre wie ein Mercedes der S-Klasse, so der Arzt. Mir reichte ein Mittelklassewagen.
Orale Karosserie
Wer lässt sich schon gern zwei Schrauben in den Unterkiefer bohren? Ich biss die Zähne zusammen. Und eines Tages kam ich dann stolz mit dem neuen Gebiss nach Hause. Meine Holde strahlte. Ich aber strahlte bald weniger, denn “bombenfest” schien mir nur das fremde Metall in meinem Mund. Die Prothese wackelte. Also marschierte ich erneut zum Zahnarzt, marschierte ins Labor, marschierte nach Hause, marschierte wieder und wieder bis am “dekadenten” Heiligen Abend morgens in der Frühe beim ersten Brötchen rein gar nichts mehr hielt.
Die Zähne – ach nein – die Prothese lag locker im Mund, so wie ich es aus den vielen Jahren ohne Implantate kannte. Nur: ich war um schlappe 5.000 Euro ärmer. Ärger hin und Ärger her, schließlich leben wir in einem Rechtsstaat und ich bin rechtsschutzversichert! Das wenigstens. Fast drei Jahre brauchten Gutachter, Gericht und Anwälte, bis alle Argumente beisammen waren. So lange musste ich mit Druckstellen und auf dem Metall klappernden Kunststoffen überwintern.
Nötigung und Demokratie
Dann kamen drei deutsche Richter zu dem Ergebnis, den Ärzten sei kein Vorwurf zu machen. Sie haben aufgeklärt und Optionen genannt und richtig implantiert. Was drei Gutachter bestätigten, nämlich eine zu enge Setzung der Implantate als Grund, sei unerheblich, auch wenn es nicht meinem Auftrag entsprach. Das Reparieren oder Nachbessern mit weiteren zwei Implantaten oder anderem für 8.000 Euro seien Sowiesokosten, die ich auch gehabt hätte, wenn ich gleich so eine Lösung gewählt hätte. Dafür gäbe es nichts.
Über einen Anspruch auf Schmerzensgeld wurde gar nicht erst gesprochen. Meine neue Erkenntnis also: Für Nötigung, insbesondere von Ärzten, gibt es nichts. Warum rege ich mich auf. Wir leben in einem demokratischen Rechtsstaat. Ist der dekadent, weil ich denke, in Afrika, im Sudan, in den Favelas von Rio oder anderswo hätte ich solche Sorgen nicht?
31 Kommentare zu
https://berlinergazette.de/gesichter-der-politik/#more-1258
Mein Beitrag wirft Fragen auf. Lösungen anzubieten, das vermag vielleicht eine Diskussion - aber auch nur vielleicht, wenn es denn Lösungen geben sollte.
(Den geschilderten Fall im Einzelnen zu diskutieren, würde den Rahmen hier sprengen, weil er sehr komplex ist und kaum in den Details interessieren würde. Zunächst wird es nach dem Urteil der ersten Instanz wohl ein Berufungsverfahren geben, sofern dem Klagenden die finanziellen Mittel dazu (Versicherung) zur Verfügung gestellt werden.)
Dekadenz war und ist das Thema. Dazu schrieb ich die Glosse. Es lohnte sich, hier tiefer zu graben und ein "kreatives Moment" zu versuchen.
Bei allem Fortschritt in der Zahnmedizin wurde vergessen, dass für das derzeitig beste Modell einer Prothese unter Verwendung noch brauchbarer Substanz vorhandener Zähne durch Teleskope z.B. oder auch Implantate für Altenpfleger, Klinikpersonal, pflegende Angehörige u.a. eine spezielle Ausbildung nötig wäre, diese Art von Zahnersatz beim Patienten herauszunehmen und zu reinigen, falls der Patient das nicht selbst leisten kann. - Große Hygieneprobleme wird es da in Zukunft geben bei Menschen, die sich nicht auf das billigste Kassenmodell eingelassen haben sondern auf die teuerste und beste Lösung, für die sie sehr viel Geld bezahlen mussten!
Na, ob die das abdrucken werden? - Meine Zahnärztin war auf jeden Fall ganz baff, als ich neulich mit ihr darüber sprach und hat, was zunächst nur eine Vermutung von mir war, bestätigt.
Herzliche Grüße
christA
Im geschilderten Fall gab es einen Vergleich zu einem faulen Kompromiss. Dekadenzen maroder Demokratien!