“Eines Tages, Baby, werden wir alt sein. Oh Baby, werden wir alt sein und an all die Geschichten denken, die wir hätten erzählen können.” Wahre Sätze in Tweetlänge, sowas ist praktisch. Für Twitter und überhaupt. Die Schauspielerin und Poetry-Slammerin Julia Engelmann hat aus diesem Satz einen Refrain gemacht für einen poetischen Appell, der seit einigen Tagen durch die Social Media-Kanäle wabert. Berliner Gazette-Redaktionsleiterin Magdalena Taube kommentiert.
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Das englische Original-Zitat (“One day baby…”) stammt aus dem Song One day / Reckoning Song des israelischen Musikers Asaf Avidan. Für alle, die ihn nicht kennen: Das Lied war so etwas wie der Soundtrack des Sommers 2012 – in der Remix-Version des Berliner Jung-DJs Wankelmut. Ein Song im Futur II: Vorweggenommene und abgeschlossene Zukunft, Retro und Techno in einem, everlasting Ohrwurm. Obendrein eine Interneterfolgsgeschichte: fast 120 Millionen Aufrufe auf YouTube.
Julia Engelmann hat die Songzeile, die jedeR U30 in Deutschland kennt, genommen und ein schönes Gedicht daraus gemacht. Vorgetragen im letzten Mai beim 5. Bielefelder Hörsaal-Slam. Sympathisch-verschmitzt-verschwitzt. Im neuen Jahr 2014 wird die Aufzeichnung nun zum Selbstläufer. Bislang sind es fast 300.000 Views auf YouTube. Dazu etliche Shares auf Facebook und Twitter sowie positive Erwähnungen in den Mainstream-Medien.
Ihr Gedicht-Appell erinnert an die US-amerikansiche Tradition der Commencement Speech. Diese Rede wird Studenten von US-Universitäten zu Teil, wenn sie das College abschließen – wenn sie Glück haben, spricht eine wichtige und schlaue Person zu ihnen. Eine der schönsten, besten und wichtigsten unter ihnen ist die von David Foster Wallace (This is Water).
“Dieser Clip wird dein Leben ändern!”
Ein schöner, unvergesslicher Moment und der Mythos vom richtigen Wort zur richtigen Zeit. Doch wer glaubt wirklich daran, dass solche Reden und Appelle das Leben verändern? Meistens diejenigen, die das Wort ergreifen, getragen vom Sendungsbewusstsein des Durchblickers. Julia Engelmann ist so jemand. Doch selbst, wenn sie einen guten Job macht, wird auch ihr Gedicht nicht zu jemandes Live-Changer werden. Auch wenn die Kommentare, mit denen der Clip im Moment tausendfach empfohlen wird, genau das versprechen: “Dieser Clip wird dein Leben ändern!”
Das ist nicht überraschend. Es klingt zunächst alles recht verführerisch, frei nach dem Motto “Leb’ dein Leben, sei spontan, verändere dich, lass dich nicht verbiegen, habe den Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen” usw. Und Engelmann weiß, wen sie anspricht: “Planlos vorm Smartphone”, “Mut ist nur ein Anagramm von Glück”, “Denn das Leben, das wir leben wollen, können wir selber wählen.” Doch zum Schluss macht sie einen Fehler, wenn sie mit den Worten endet: “Also los, schreiben wir Geschichten, die wir später gern erzählen!”. Statt aufgerieben und aufgeheizt das Faustballen zu triggern, driftet die Stimmung ins schwelgerische. Man ist busy mit der schönen Vorstellung, was alles sein könnte. Oder was alles hätte sein können.
Träumen statt handeln. “What if?” statt “Just do it!”. Planen statt spontan sein. Dabei wusste schon John Lennon als er in Beautiful Boy sang: “Life is what happens to you while you’re busy making other plans.”
Hier das Gedicht von Julia Engelmann:
15 Kommentare zu
Von Revolution und Systemkritik hat keiner geredet. So what??
Sorry, ich finde das Mäkelei, weil halt grad mal was mainstreamig die Runde macht. Erfolg, auch Quote ist ja kein Garant für Qualität - aber auch nicht per se und automatisch dumm, falsch und bäh.
Diese charmante, eben weil scheinbar naive Warnung, vor lauter verzagter, achtloser Vorläufigkeit ein Leben zu verpassen, von dem man später als Greis am Feuer Lieder singen möchte - dies als Aufruf zur Planung besserer narrativer Verwertbarkeit umzudeuten heißt wirklich, den Text umzustülpen und achtlos auf den Kopf zu stellen.
Spannend, wie man auf so eine Lesart kommen kann. Hat vielleicht mehr mit den eigenen Ängsten zu tun als mit dem auslösenden Text? So wie dieser eben so viele Leute anspricht, weil er ihre Angst anrührt - und ihnen Mut macht. Allemal besser als das, was Sonya als "kritische Stimme" empfiehlt: Das Populäre so reflexhaft zu entlarven und mit furioser Häme zu überziehen ist auch nur eine Form der Trittbrettfahrerei und scheint mir eher besessen als inspiriert.
Mich hat Engelmanns Auftritt auch berührt. Aber als ich dann so berührt und gerührt war, hab ich mich gefragt, was das eigentlich geschehen ist und was da eigentlich gemacht wird.
Und jeder Hype und jedes virale Video ist eine Aussage über die jeweilige Zeit. Vielleicht können wir die Diskussion ja in eine andere Richtung tragen und uns fragen, was genau hier eigentlich zu sehen ist?
Das Video wird derzeit von etlichen Online-Nachrichten-Seiten beworben und geteilt. Darunter Berliner-Zeitung.de. stern.de präsentiert es gar mit dem Titel "Dieses Video könnte ihr Leben ändern" - auf stern.de, nicht auf Facebook. Der Text beginnt mit: "GROSSARTIG! Es gibt kein anderes Wort dafür! Und ja: Auch die Versalien müssen sein! Denn dieser Clip zieht einem echt die Schuhe aus!"
Privat auf Facebook ist das die richtige Art, etwas zu teilen, aber von einem Journalisten in einem Artikel erwarte ich doch mehr: Analyse, kritische Auseinandersetzung, Meta-Ebene, gesellschaftliche Einordnung, solche Sachen. Die einzige Zeitung, die ich das Video bisher habe ernsthaft angehen sehen (auch wenn die Analyse nach einer schönen Einleitung abrupt endet), ist das Online-Journal Berliner Gazette Redaktion: http://bit.ly/1icSmgM
Die Redakteure, die solche Videos online stellen, verweisen dann gerne auf die hohen Klickzahlen. Aber wir haben gerade die Klickhurerei durch endlose Fotostrecken und dergleichen hinter uns gelassen. Die großen Redaktionen sollten jetzt nicht den Fehler machen, Facebook mit ihrer Website zu verwechseln.
Und die spannendere Frage ist allemal die, die du aufwirfst: Was passiert hier a) bei und mit den Berührten und Begeisterten und b) mit den Engelmann-Hassern (Hype-Hassern)?