Wenn der Philipp zuviel zappelt, kennt heute jeder Klassenkamerad die Diagnose: ADS! Eine geregelte Zufuhr von Medikamenten hilft ihm dann, sich besser zu konzentrieren. Doch wie lebten ADSler eigentlich bevor man ihre Störung medizinisch erklären konnte? Und welche Auswirkungen hatte das auf ihre Bildungskarriere? Der Regisseur Joerg Offer ist erwachsener Aufmerksamkeitsdefizit- patient und weiß Grausiges zu berichten.
Ich war von Anfang an professioneller Autodidakt. Die erste große Chance packte ich im Alter von vier Jahren beim Schopfe, als mein Vater ein Schreibwarengeschäft eröffnete. Umgeben von Zeitschriften, Magazinen und Comics in Hülle und Fülle, entwickelte ich umgehend eine veritable Buchstabensucht.
So gelang es mir rasch das Geheimnis des Alphabets zu entschlüsseln und war des Lesens schon ein Jahr vor der Einschulung übermächtig. Das sorgte für einen großen Wissensvorsprung in den ersten beiden Schuljahren, der mich leichterhand zumindest auf Platz zwei der Grundschul-Großhirne katapultierte. Aber auch mein Gehirn auf ungute geistige Solotänze programmierte.
Nun begegnete ich einem Leistungseinbruch, einer inneren Verweigerungshaltung und Seltsamkeit, die erst jetzt im hohen Alter ihre medizinische Diagnose erhielt. Ich bin ein erwachsener Aufmerksamkeitsdefizitpatient. Alle Tests mit Bravour bestanden. Dopaminhaushalt gestört, lebenslang. Toll. Damals war man gerade mal so weit, Linkshänder nicht zu amputieren und den Begriff Legasthenie gnädig auf gewisse eselsmützige Schüler anzuwenden.
Ich galt als hochintelligent, aber stinkend faul, mit eigensinnigem Kopf und höchst merkwürdigen Begabungskombinationen. Morgendliche Ritalinhäppchen blieben mir leider verwehrt, mein täglicher Unterforderungstunnelblick aus dem Fenster, samt stets wippendem Bein, wurde geflissentlich ignoriert. All das bescherte mir eine recht eigentümliche Bildungskarriere.
Der erste Abiturient der Familie
Prägend war für mich der Einfluss meines Großvaters, eines Postbeamten, der von den geistigen Fähigkeiten seiner vier Kinder etwas enttäuscht war. Opa hatte mich nun dazu auserkoren, der erste Abiturient der Familie zu werden und versorgte mich mit Büchern. An Schule nur sehr partiell interessiert, begann ich alle Energie in meine systematische Selbstausbildung zum kuriosen Privatgelehrten zu stecken.
Ich stopfte unkontrolliert Wissen in meinen Kopf, das mich abseits normaler Pfade führte. Das alles ohne Internet, aber mit wöchentlichen Bibliotheksbesuchen und stets sieben parallel gelesenen Büchern. Durch das Recherchieren in Vorwörtern und Glossaren, gelang es mir schon als Neunjähriger, über die Lektüre von Jules Verne zu Edgar Allan Poe zu gelangen, der mich sanft weiter zu Baudelaire geleitete und schließlich bei Franz Kafka enden ließ. Ich verstand nur die Hälfte von allem, aber das reichte mir vollkommen. Ich spürte, dass die Schule niemals mit lebendig Begrabenen, schwindsüchtigen Morphinisten sowie in Käfer verwandelte Männer aufwarten würde.
Parallelexistenz als Autodidakt
Das führte über die Jahre zu einer geistigen Parallelexistenz, einem wildwüchsigen Autodidaktentum, das natürlich Schwierigkeiten bereiten musste. Gruppenarbeiten und Diskussionsrunden waren mir stets zuwider, ich konnte nicht auf geistige Nachzügler warten, wurde schnell ungeduldig und war sofort desinteressiert. Klassische ADS-Symptome, wie man heute weiß.
Dank guter Sozialkompetenzen gelang es mir die Schule noch hinter mich zu bringen und hoffte dann, zunächst in der Filmklasse einer Kunsthochschule, endlich bei mir selbst angekommen zu sein. Doch weit gefehlt! Auch hier lauerte das Scheitern aus Ungeduld. Aristoteles war der Übeltäter. Seine Poetik hatte ich im Wahn schon als 13-jähriger, neben Shakespeare, versucht zu verstehen. Im Deutsch-Leistungskurs wurde er zusammen mit Lessing und Brecht erneut besprochen. Was erwartet mich im Filmstudium gleich zu Beginn? Aristoteles!
Kaum jemand hatte im Kurs von ihm gehört, über den Grad meiner Aufmerksamkeit brauche ich weiter kein Wort zu verlieren. Nach drei langweiligen Jahren wechselte ich auf eine neue, ehedem sehr elitäre Filmschule, die mich als mit Abstand jüngsten von nur zehn Regiestudenten aufnahm. Das alte Feuer in mir flammte wieder auf, ich wähnte mich endlich am Ziel der Reise, nun würde ich sicher stets aufmerksam zuhören.
Diagnose: Lebenskünstler
Nach drei Wochen Geplänkel ging es endlich ans Eingemachte und die Kunst des Drehbuchschreibens stand auf dem Tableau. Gebannt lauschte ich den Worten des gefeierten Professors, er sprach zum großen Erstaunen meiner Mitstudenten von unerhörten Zusammenhängen, Geheimlehren und absonderlichen Theorien: Aristoteles, Lessing, Brecht, Shakespeare!
Von da an fand man mich meist nur noch in der gut ausgestatteten Bibliothek, beim Drehen meiner eigenen Filmchen und in den Seminaren seltsamer Gastdozenten, die über Wahrnehmungstheorien oder russische Filmgeschichte referierten. Meist schwach besuchte Exoten-Seminare. Eine solch individuelle Bildungshistorie führte natürlich zu einem ebenso absurd vielschichtigen Lebensmodell.
Vom selbsterwählten Bildungskünstler zum sogenannten Lebenskünstler, der nun neuerdings immerhin eine neurowissenschaftliche Diagnose seines abnormen Lernverhaltens in den Händen hält. Damit ist diese merkwürdige Odyssee zwar endlich ansatzweise erklärt, aber die Reise geht wohl immer so weiter, bis ins Grab!
26 Kommentare zu
Das ist eine aussergwöhnliche Lebensentwicklung, aber als Problem eben doch recht banal.
Man fragt sich: Wie früh wurde es erkannt? Und was für Schlüsse hat man gezogen?
Obschon ich sicher kein Großapostel der Bescheidenheit bin, verstehe ich das der Text etwas egozentrisch rüber kommen kann. Liegt auch daran, das ich ihn selbst massiv gekürzt habe. Um die Lebensbeichte komplett zu machen und die typische andere Seite der ADS-Medaille kurz zu skizzieren:
2 Schuljahre wiederholt, in der 8.Klasse fast gänzlich ohne Abschluss vom Gymnasium geflogen, nur 12 Pistolen auf der Brust, ließen mich noch soeben die Kurve kriegen..
3 Monate vor dem Abitur trotz möglicher Zulassung abgegangen...lieber die sehr verschärfte Aufnahmeprüfung der Kunstakademie in Kauf genommen...
Ebenso die Filmhochschule kurz vor Abschluss kommentarlos verlassen...
Nur 2 Monate des ganzen Lebens in Festanstellung, ansonsten einzig Freiberufler..
Das ergänzt das Gesamtbild doch schön, oder?
dass Ritalin nun mal nichts mit Koks, Drogen, zuballern, schon gar nichts mit verseuchen zu tun hat!
Auch ich bin betroffen (und leider sehr spät zur Diagnose gekommen), und auch ich habe vor Schuleintritt lesen gelernt und früh extrem viel gelesen - solange die Bücher spannend und interessant waren, und nicht immer das, was Erwachsene lesens- und lernenswert fanden!
Und ich kenne ADHS-Kids, die extrem viel lesen.
Leider kursieren Dank gewisser (vor allem pseudo-wissenschaftlicher) Presseergüsse noch viele Unsinnigkeiten und Vorurteile über AD(H)S.
Für mich ist J. Offers Bericht stimmig! (Nebenbei: Danke für den Bericht!)
Und Selbstbeweihräucherung? Vielleicht das Ganze wirklich aufmerksam nach 3 Tassen Kaffee nochmal lesen. Vielleicht fällt dann auch der Galgenhumor und die Selbstironie auf, und das nicht nur in den Kommentaren. ;-)