“Axolotl Roadkill” ist in aller Munde. Aus dem Hype um diesen Roman gehen Fragen hervor, die die junge Generation betreffen. Nämlich: Wie werden Jugendliche durch die Schnelllebigkeit und Vernetzung unserer globalen Gesellschaft geprägt? Was sind die Folgen von offenen Familienverbänden, Großstadtsozialisation und Wohlstand? Diese Fragen und die daraus folgenden Diskussionen werden derzeit auf tiefgründige Weise im klassischen Feuilleton behandelt. Für Anton Scholz Grund genug, um die “Axolotl Roadkill”-Debatte zum Anlass zu nehmen, über das Feuilleton an sich nachzudenken.
Das klassische Feuilleton nehme ich als den interessantesten Zeitungsteil war. Es ist für mich eine Schnittstelle von politischen, philosophischen und soziologischen Ansätzen, an der am Beispiel von aktueller Kultur unsere Gegenwart verhandelt wird. Es ist eine Plattform für Meinungen, die unter Einschluss der Öffentlichkeit ausgetauscht werden. Das erste Mal habe ich das Feuilleton als solches in der Oberstufe wahrgenommen. Wir haben damals im Geschichtsunterricht Tageszeitungen untersucht. Das war vor circa fünf Jahren. Seitdem lese ich es fast täglich und wenn ich gerade keine Zeitung zur Hand habe, surfe ich zum Perlentaucher, auch wenn das für manche fragwürdig ist.
Im Dialog mit der Kultur
In den klassischen Feuilletons wird alles, was die Gesamtheit des gesellschaftlichen Lebens betrifft, wie durch ein Brennglas heruntergebrochen. Beispiele dafür wären die von Peter Sloterdijk losgetretene Debatte über das Steuersystem in Deutschland oder die breit diskutierte Frage vom Islam in Europa. Feuilletons erneuern ihren Kulturbegriff dialogisch zur Kultur selbst. Sie nehmen eine Kommentatorenrolle ein und sind damit selbst kulturschaffend. Deshalb ist es ganz selbstverständlich, dass heute mehr von den Folgen globaler Vernetztheit in den Feuilletons zu lesen ist, als noch vor zehn Jahren. Oder von Literatur wie Axolotl Roadkill, die mit ihrem Sprachüberschuss an Kaputtheiten auf schieres Überangebot hinweist.
Helene Hegemann, die Autorin, legt in “Axolotl Roadkill” dar, was für negative Auswirkungen ein Leben in grenzenloser Freiheit haben kann. Dies ist ein Leben wie im Internet: ich kann immer überall hin, kann mir alles beschaffen und werde regelrecht überhäuft von Angeboten, die mich zu manipulieren drohen. Massig Optionen an Scheinfreiheiten, die mich so überreizen, dass ich mich gar nicht mehr entscheiden kann und mich willenlos hingebe. Kurz: Die Autorin beschreibt die Symptome einer ausufernden Gesellschaft. Dass sie dabei abgeschrieben hat, wie neuerdings bekannt wurde, ist natürlich ein Ding!
Herausforderungen und Chancen
Es wäre interessant zu wissen, ob Hegemann das Buch, aus dem sie kopiert hat, besaß oder ob sie den Text, aus dem Blog des Autors hatte, wie sie selbst behauptet. Denn mir scheint, dass die Hemmschwelle, Fremdmaterial zu übernehmen, sinkt, sobald das Internet als Quelle dient. Außerdem hat man es im Internet mit einer anderen Kultur des Teilens von Ideen und Artefakten zu tun. Remixen im Copy und Paste-Modus ist hier ebenso Alltag wie die Enteignung und Entprivatisierung von Wissen. Ein kürzlich erschienenes Buch bringt es auf den Punkt: Freie Netze, freies Wissen. Auch ein gutes Motto: Vernetzt schreiben.
Ich finde, dass man trotz oder gerade wegen der Gefahren, die das Internet birgt, vor allem die Chancen sehen muss. Denn damit Individuen ihre Freiheit nutzen können, ohne wie Hegemanns Protagonistin verloren zu gehen, muss man diese Freiheit gestalten, anstatt sie zu ignorieren oder nur schlecht zu reden. Das wäre ein Grund, warum das klassische Feuilleton aufhören sollte die Internet-Kultur nach Belieben zu kriminalisieren – die Willkür und Doppelmoral ist im Fall Hegemann mal wieder deutlich geworden: Carta titelte treffend Der doppelte Hegemann.
Das klassische Feuilleton sollte, wie es seiner Rolle gebührt, anfangen, auch in diesen Belangen Aufklärungsarbeit zu leisten. Zu wissen, wie man Möglichkeiten nutzen kann, bevor man zu viele oder gar keine nutzt, ist Gold wert. So oder so: Man sollte die Zeitung neu öffnen.
(Anm.d.Red: Anton Scholz (Jahrgang 1987) engagiert sich im Berliner Gazette e.V. Sein Debüt in der klassischen Print-Zeitung gab er mit einem in der ZEIT abgedruckten Widerspruch.)
23 Kommentare zu
http://www.spreeblick.com/2010/02/08/helene-hegemann-und-airen-interview-mit-strobo-verleger-frank-maleu/
Zu Herrn Scholz/dem Feuilleton: Ihr Interesse am Feuilleton ist ja bewundernswert, aber es gibt noch mehr da draußen in der großen weiten Welt, das Feuilleton lässt es nur so aussehen, als ließe sich alles in einer Kaffeebecherlänge klären.
Meine Frage: Netz und Feuilleton knallen im Fall HH so richtig schön aufeinander, die Frage ist doch: Lässt sich die Diskursmacht der beiden Systeme nicht jenseits von Hässlichkeiten und Neid in positive Energie ummünzen? (Ich bin es leid, dass die Blogger auf die "50-Jährigen Feuilletonredakteure" schimpfen und dass die Feuilletonmacher die Netzakteure für widerwärtige Kraken hält).
Mein Vorschlag: Ein Kongress! BildungsbürgerInnen und BloggerInnen aller Nationen vereinigt euch!
"Mag sein, dass Enklaven ihren Sinn haben und einen wichtigen zivilisatorischen Zweck erfuellen koennen. Aber bevor man Enklaven braucht, muss man zunaechst die wilde Natur auf Augenhoehe erlebt haben, zu ihren Bedingungen. Sonst wird die Enklave zu einem Zufluchtsort vor der Natur, statt zu einem Garten, der in Korrelation und im Dialog mit der wilden Natur angebaut wird."
im Kontext, hier: https://berlinergazette.de/wie-tokio-mein-denken-veraendert-hat/
Das ist der Knackpunkt: Sauerei in der Literatur muss nicht primär Literatur, sondern in erster Linie echt sein. Sundermeider: "Helene Hegemann weiß offensichtlich, was so mancher Feuilletonist nicht wahrhaben will: dass man sich Erfahrungen auch anlesen kann." Und weiter: "Fünfzehn Jahre nach dem Tod von Helmut Heißenbüttel, zwanzig Jahre nach dem Tod von Max Bense, hundert Jahre nach dem Linguistic Turn und in einer Zeit, in der Grundkenntnisse in Strukturalismus und Poststrukturalismus zum Allgemeinwissen gehören, will mancher Feuilletonist am liebsten Bücher, die das Leben selbst spiegeln."
Und jetzt noch die Quelle:
http://www.taz.de/1/debatte/kommentar/artikel/1/pikante-stellen/