Filmstill aus Down by Law, © Black Snake
Das Leben vergeht schnell: Informationen und Eindrücke werden unermüdlich durch immer neue ersetzt. Die ehemalige Konzertpianistin und heutige Kommunikationsberaterin Nancy Chapple hat sich gefragt: WAS BLEIBT? Was wird nicht augenblicklich weggewischt, vergessen, ersetzt durch Neues? Die gebürtige US-Amerikanerin beantworetet die Frage mit einer Favoritenliste aus Musik, Film und Literatur und der Einsicht, dass Multitasking nicht zu den Tugenden gehört, die sie sich aneignen möchte. Eine persönliche Bestandsaufnahme.
Ich bin alt – gefühlt zwar überhaupt nicht, aber auf dem Papier. Zur Veranschaulichung: Ich bin drei Mal so alt wie meine Stieftochter, und sie ist in der 11. Klasse. Bin ich konservativ? Bin ich rückwärtsgewandt? Sehne ich mich nach guten alten, nie wiederkehrenden Zeiten?
zu
Nein. Ich bin doch modern. Ich bin den ganzen Tag im Internet und ich will mir das Leben ohne nicht vorstellen. Allerdings nutze ich kein Facebook – ist doch unheimlich, wie sie ein Netz von früheren Verbindungen um dich spinnen. Und bestimmt nicht Twitter: Was könnte in 140 Zeichen gesagt werden, was es wert ist, von sich gegeben oder gelesen zu werden?
Musik, die bleibt
Es gibt Kulturgüter, Kulturschätze, die mir unheimlich wichtig sind. Es gibt Traditionen und langsam erworbene Fähigkeiten, die ich sehr achte. Werke, die lange vor uns hier waren und lange nach uns noch nachhallen werden. Komplexe kontrapunktische Stücke von Johann Sebastian Bach auswendig und überzeugend aufgeführt, die Stimmen miteinander im Dialog verwoben, zwar nach strengen Regeln komponiert, aber jedes Mal frisch auslegbar.
Prélude Englische Suite II a-Moll (Bach) by Nancy Chapple
Bhutanesische Webkunst, Elvis Costellos Lieder Alison und I Want You – komplexe Emotionslandschaften verwandelt in Songs, die nur ein paar Minuten dauern. Architekten, die neuartige Bauten im Kopf hatten und sie bauen ließen oder auch nicht. Das glückselige Gefühl, wenn man zum ersten Mal Down by Law sieht: frisch, schräg, in schwarz-weiß und in einem ganz eigenen, langsamen Tempo.
Literatur, die mich prägte
Mein Leben wäre deutlich weniger interessant ohne sehr viele Romanciers aus dem englischsprachigen Raum, meiner geistigen Heimat. Sie verbinden Menschenverständnis mit Storytelling und zeichnen dabei Porträts historischer Epochen so meisterhaft, dass einem der Atem stockt. F. Scott Fitzgerald: die glitzernde Jazz-Ära, Hoffnungen und zerstörte Hoffnungen in einer funkelnden, durchsichtigen Prosa.
J.M. Coetzee: der Held immer ein griesgrämiger, alternder Mann, Lust verspürend aber unfähig, sich mit anderen zu verbinden – denselben Menschentyp lernen wir in verschiedenen Erdteilen, Situationen, Prosaformen kennen. Colson Whitehead: eine Generation aufstrebender schwarzer Männer aus der Mittelschicht, priviligiert in ihrer Bildung, aber per definitionem am Rande der Mehrheitsgesellschaft. Und auch noch E.L. Doctorow, Jeffrey Eugenides, Jane Smiley, Don DeDelillo, A.L. Kennedy, Philip Roth, usw.
Multitasking muss man nicht können
Ich finde die Behauptung spannend, junge Menschen von heute meistern das Multitasking – z.B. gleichzeitig Chatten, einen Film auf DVD gucken, und dabei mit einer Freundin, die im Zug reist, SMS austauschen – und dass wir Grauhaarigen auf diesem Gebiet furchtbar rückständig wären.
Ich kann all diese Sachen auch, aber würde sie lieber nicht gleichzeitig tun müssen. Ich würde eine ungenügende Wertschätzung meiner Freundin gegenüber verspüren, wenn ich mich nicht ganz auf meine Botschaft an sie konzentriere und würde nach Möglichkeit nur Filme anschauen, die meine ungeteilte Aufmerksamkeit erfordern und verdienen.
Es bleibt eine Menge, wenn man innehält und horcht, wenn man mit Hochachtung auch Vergangenes vor Augen ablaufen lässt. Was auf meiner persönlichen Liste steht, muss für andere Menschen gar nicht gleichermaßen Bestand haben. Ihr könnt völlig anders zusammengestellte persönliche Favoritenlisten haben. Aber etwas bleibt! Etwas bleibt nach mir, etwas bleibt von früheren Generationen, wir erfinden uns nicht immer wieder neu, das geht gar nicht.
13 Kommentare zu
Generell ist die Frage nach dem Kanon immer schwierig, finde ich.
Aphorismen sind nicht länger und da gibt es eine ganze Menge, was schön ist und bleiben sollte!
http://de.wikipedia.org/wiki/Aphorismus
gefällt mir!
"Multitasking – z.B. gleichzeitig Chatten, einen Film auf DVD gucken, und dabei mit einer Freundin, die im Zug reist, SMS austauschen – und dass wir Grauhaarigen auf diesem Gebiet furchtbar rückständig wären. Ich kann all diese Sachen auch, aber würde sie lieber nicht gleichzeitig tun müssen."
das ist ein guter Punkt gegen das Multitasking --- nur diese Einschränkung am Ende "lieber nicht müssen" --- das verstehe ich nicht ganz. Wer zwingt Sie denn dazu? Sie können doch frei entscheiden, oder?
"wir erfinden uns nicht immer wieder neu, das geht gar nicht."
aber vielleicht erfinden wir das, was geblieben ist, immer wieder neu, indem wir es immer wieder neu sehen, neu lesen, neu interpretieren --- und immer Zuge dessen, wenn all dies immer auch ein Stück weit Spiegel ist, gilt dies auch für uns, sonst gäbe es keinen Prozess, keine Entwicklung, kein morgen.
- My Way
- It's a Wonderful Life
- William Shakespeare's Complete Works
"Allerdings nutze ich kein Facebook – ist doch unheimlich, wie sie ein Netz von früheren Verbindungen um dich spinnen."
"sehr schwer" und "nicht mehr gewöhnt" bedeutet: man muss und kann nicht anders?
@5 & 7 & 9 & 10: "Niemand" zwingt einem zum Multitasking ... aber die schnelllebige Welt um einen herum schon. Ich plädiere dafür, dass Einzelne, dass Gesellschaften im Flut der unendlich vielen Inputs nicht die Fähigkeit zur innigen Konzentration verlieren.
@solfrank: Ja, ich bezichtige mich des Facebook-Bashing. Alte Freunde und Bekannte auch nach (mehreren, in meinem Fall) Jahrzehnten über das Internet wieder entdecken ... spannende Sache. Aber Facebook ohne mich --
"Facebook kennt unsere Freunde und Vorlieben, vielleicht auch die politische Einstellung, und oft sogar unseren Tagesablauf. Google speichert, auf welchen Seiten wir surfen, und Amazon, welche Bücher und Filme wir mögen. Während Datenschützer dazu aufrufen, mit den eigenen Daten zurückhaltend umzugehen, hat sich eine Bewegung gebildet, die Datenschutz in Zeiten des Internets gar nicht mehr für möglich hält. Die Datenschutzkritiker wollen stattdessen eine Gesellschaft, in der es kein Nachteil ist, wenn z.B. bekannt wird, welche Krankheit jemand hat. Auch der Staat wird wahrscheinlich bald wieder speichern, mit wem wir telefonieren und mailen, wann wir wie lange im Internet sind. Deshalb wollen wir wissen: Wie viel Privatsphäre braucht der Einzelne in der modernen Gesellschaft?"
Hier zu der Radio-Sendung:
http://www.wdr5.de/sendungen/funkhausgespraeche/s/d/12.05.2011-20.05.html
http://www.hendrikspeck.com/biography/