MINIMUM
In einem medialen Klima, welches von Rhetoriken der Inklusion und Exklusion geprägt ist und welches zunehmende Polarisierungen innerhalb der Gesellschaft spürbar werden lässt, ruft die Berliner Gazette im Jahr 2008 dazu auf, das Gemeinsame zu definieren. Also das, was uns gleichermaßen verbindet und unterscheidet und das, was uns politisiert. Und zwar grenzübergreifend. Dies wäre das „minimum“. Diese Hypothese ist der Ausgangspunkt für Fragen, welche die Redaktion Intellektuellen stellt, so unterschiedlich wie AktivistInnen, WissenschaftlerInnen, KünstlerInnen, IntendantInnen und MedienproduzentInnen.
  • Niemand mehr zuhause

    Muenchen 1979: meine ersten Gedichte entstehen im Umkreis von Freunden. Man traegt gegenseitig vor, streitet naechtelang und geht gemeinsam auf Reisen. Am Bodensee uebersetze ich einige Gedichte aus >Mohn und Gedaechtnis< ins Tuerkische, jene Sprache, die niemand in meinem Umfeld versteht. Paul Celan auf Tuerkisch wird ein staendiger Begleiter in den naechsten Jahren. Celans Sprache oeffnet der deutschen Sprache ein neues Tor, das in der Naehe meiner phantasierten Heimat liegt. Dort ist niemand mehr Zuhause. Ich moechte meine Freunde dorthin einladen, damit sie mich besser verstehen. Ich gebe diese Idee schnell wieder auf. Jeder soll seine Heimat fuer sich behalten. Sie ist wie eine Geliebte. weiterlesen »

  • Lebendige Aussenseiter

    Einsamkeit hat meine Phantasie schon immer mehr erregt als jede Art von Gemeinsamkeit. Vielleicht, weil man das Gemeinsame so wenig spuert wie den Koerper, in dem man gefangen ist. Gemeinsamkeit ist langweilig, sie schmeckt nach Unifizierung. In der medialen OEffentlichkeit gibt es so viel Gemeinsamkeit, dass einem uebel wird. Wenn man nach zwei Wochen Rueckzug aufs polnische Land nach Berlin zurueckkommt, fuehlt man sich von den Statements in TV und Radio niedergebruellt. Zu jeder Stunde auf allen Radiosendern die gleichen gestanzten Meldungen. Auch wenn das gar nicht versuchter Manipulation, sondern oekonomischer Ratio geschuldet ist (welcher Sender kann sich noch eine vollwertige Nachrichtenredaktion leisten?), fuehlt man sich dennoch ein bisschen wie in Orwells Staat. weiterlesen »

  • Fiktionen fabrizieren

    Die Phase der Selbstdefinition verlaeuft historisch und individuell sehr unterschiedlich. Ich war zum Beispiel Ende der 1970er auf einem erzreaktionaeren Gymnasium in Oberschwaben, mein Vater an den revolutionaeren Umtrieben im Iran beteiligt und meine Mutter musste arbeiten und ihr Leben neu ordnen. Im Jugendhaus in Ravensburg waren die Uebungsraeume verschiedener Bands und die dortigen Sozialarbeiter gaben uns die Mittel, um unsere ersten Zeitungen herzustellen. weiterlesen »

  • Wir-Welten anzetteln

    Interessen zu haben, die man mit anderen teilt, ist keine notwendige Bedingung fuer Freundschaften. Vielmehr ist es ein kaum definitionssprachlich fassbares Vorhandensein jener wunderhaften Anziehungskraft, die vertrauensbildende Konnexe etabliert. Und hilfreich dabei scheint mir gerade zu sein, dass man nicht die gleichen Interessen sondern Interesse am Je-Anderen hat. Zweck- oder Interessensgemeinschaften sind eher keine Formel, mittels derer ich das Signifikat von Freundschaften dechiffrieren wollen wuerde – deformiert sie das Phaenomen doch in jene heute so beliebte kalkulatorische Dimension hinein, der sich Freundschaften so herrlich entziehen koennen. weiterlesen »

  • Sozialistische Cowboys

    Gemeinschaftsgefuehl ist eine schwierige Sache. Ich wollte eigentlich immer Fussballer werden. Nur muss man dazu guter Fussballer sein. Und das war ich nicht. Im Gegenteil. Ich war richtig schlecht. Ich hatte nicht verstanden, dass nicht der Ball zu mir kommt, sondern ich zum Ball gehen muss. Und wenn man kein guter Fussballer ist, wird man beim Tip-Top auch nicht als Erster ausgewaehlt. Trotzdem kenne ich kein so intensives Gefuehl von Gemeinschaft innerhalb einer Gruppe, wie das als Kind auf dem Fussballplatz. Spaeter, in der Pubertaet, sublimierte sich der Wunsch nach Gemeinschaft in kulturellem Interesse. Gemeinsam mit Freunden malte ich. Ich weiss nicht mehr, ob ich Architekt und Kuenstler oder Architekt oder Kuenstler werden wollte. Aber Kunst und Architektur, das war es. weiterlesen »

  • Kunst des Gemeinsamen

    Gemeinsame Interessen, insbesondere abstraktere, sind eine gute Voraussetzung fuer ein aufregendes Gespraech oder einen schoenen Abend. Vielleicht kann man sagen, dass genau dies einen guten Bekannten ausmacht. Fuer eine gute Freundschaft bedarf es allerdings mehr, in gewissem Sinne verlangt es nach etwas Gegenteiligem. Die Freundschaft kennzeichnet sich durch die Anerkennung des Anderen, einer beiden Seiten bewussten Ungleichheit und der gegenseitigen Bereitschaft diese zu akzeptieren. Der Philosoph Marcus Steinweg beschreibt dies sehr schoen in seinem Buch Subjektsingularitaeten: >Die Gemeinschaft der Freunde ist die Gemeinschaft der Aufeinander-Hoerenden.< Es geht also, wie er weiter schreibt, um eine Bewegung hin auf das schlechthin Andere, eine Ueberforderung der eigenen Person. Das gemeinsame Interesse besteht demnach eher in einer geteilten Bereitschaft diese Differenz anzuerkennen, einer gemeinsamen Teilhaberschaft an der Grenze. weiterlesen »

  • Uncoole Leidenschaften

    Ein Modell, das seit zwanzig Jahren an mir haengengeblieben ist, ist das des Fanzine-Herausgebers, etwas, das ich schon als Teenager getan habe. Zur selben Zeit habe ich auch zum ersten Mal Musik geschrieben und Platten aufgenommen und vertrieben. Ein vorrangiges Thema meiner Arbeit ist die taegliche Praxis des Herstellens, eine Praxis, die auch Alltagsaktivitaeten beinhaltet, wie Korrespondenzen und persoenliche Beziehungen mit Freunden an geographisch weit verstreuten Orten aufrechtzuerhalten. Es klingt vielleicht seltsam, aber ich freue mich heute genauso, mein Postfach zu oeffnen wie ich es getan habe, als ich 16 Jahre alt war und meine Welt durch die Korrespondenz mit Punks aus der Schweiz und Arizona aus den Angeln gehoben wurde. weiterlesen »

  • Signale aus NYC

    Wer Gemeinsamkeit herstellen will, muss Differenz erfahren haben. Nur aus dem Bewusstsein von trennenden Unterschieden entsteht der Wunsch nach Gemeinsamkeit. Ich bereite gerade eine Anthologie mit literarischen Texten vor: Signale aus der Bleecker Street3. Dort wird junge Literatur aus New York versammelt, teils auf Deutsch, teils in amerikanischem Englisch. Die Zusammenstellung und Kommentierung dieser heterogenen Texte hat bei mir einen Rueckblick auf Erfahrungen mit Differenzen und Gemeinsamkeiten ausgeloest. weiterlesen »

  • Kakao im Kopf

    Dieser Anfang muss ein wenig holpern, Sprechen ueber Freundschaft laeuft nie so glatt wie die Freundschaft selbst; soll ich wirklich von einer eigenen erzaehlen, und sie auf diesem Wege zu etwas mit Ihnen Gemeinsamem machen? Oder ist sie das nicht ohnehin bereits? Die Rede von der >Hoeherwertigkeit< einer Freundschaft, die mehr will als blossen Lustgewinn – die Idealisierung einer Freundschaft, die einem der spielerischen Jugendlichkeit entwachsenen Lebensalter vorbehalten ist, ist so alt wie das Denken ueber Freundschaft selbst. Desgleichen die Frage, wie eine solche Freundschaft zu beschreiben ist; formuliert das kuehle Schlagwort der gemeinsamen abstrakten Interessen heute das, was seit Aristoteles als zweites Selbst durch all die nachlesbaren Versuche ueber Freundschaft geistert, die unsere Vorstellung von Freundschaft zwangslaeufig praegen? weiterlesen »

  • Platzhalter Gendrifizierung macht uncool

    Ein substantielles Gemeinschaftsgefuehl hatte ich zum ersten Mal auf der Tanzflaeche. 1989. Erst als ich von zu Hause ausgezogen war, mich vom Tennisverein verabschiedet hatte und sowohl Dienstag- als auch Donnerstag-, Freitag- und Samstagnacht zu >The Smiths< und >Sonic Youth< oder auch >Stone Roses< und >My Bloody Valentine< ins >Roemer< in Bremen tanzen ging, lernte ich Menschen kennen, mit denen ich Gemeinsamkeiten hatte. Das bezog sich aber nicht nur auf das Interesse an Musik: Am Rande der Tanzflaeche traf ich auch zum ersten Mal andere 17-jaehrige, die sich fuer Godard und Truffaut, aber auch fuer Marx oder Nietzsche interessierten. weiterlesen »

  • Oekonomie des Gemeinsamen

    Ich war 1998 aus Tokio nach Berlin gezogen und wollte ein neues Projekt anfangen. Ich war damals 26 und hatte schon in Japan viel mit Menschen zu tun gehabt, die im Internet unterwegs waren. Ich kam ueber meinen Freund Klaas Glenewinkel mit der Firma Ponton ins Gespraech, die gerade einen ueberregionalen Kulturserver aufbaute. Damals haben mich Projekte wie Abfall fuer alle von Rainald Goetz beschaeftigt – hier fiel das Prozessuale sehr stark ins Gewicht. weiterlesen »

  • Wenn alle gehen, wird alles gut

    Gemeinsam I: Aristoteles unterscheidet drei Formen der Freundschaft: die geistige, die oekonomische und die koerperliche. Als erste Form existiert die Freundschaft um ihrer selbst Willen (>vollkommene Freundschaft<). Die zweite Form bezweckt einen gemeinsamen aeusseren Nutzen. Bei der dritten ist der Zweck die Lust. Entscheidend bei der Bewertung von Freundschaften scheinen mir also nicht die gemeinsamen Interessen, sondern vor allem die Zwecke zu sein. weiterlesen »