ZEITGEIST

Muss der Wunsch nach Entschleunigung unerfüllt bleiben in einer Ära, in der Zeit als etwas Gestalt- und Formbares, außer Kontrolle geraten scheint? Oder schlichtweg diese Eigenschaften verloren zu haben scheint? Hilft die Umklammerung des Terminkalendars als Struktur- und Gestaltungselement des Alltags wirklich weiter? Welche Folgen hat die Globalisierung auf unsere Zeitwahrnehmung? Was könnte man unter der Globalisierung von Zeit verstehen? Wie tickt globale Zeit?

Diese Fragen treiben die Berliner Gazette im Jahr 2007 um. Die Redaktion begibt sich auf die Suche nach einer neuen Weltuhr und befragt dabei Kulturschaffende und Intellektuelle aus der ganzen Welt.
  • Zum Stillstand kommen

    Vor kurzem las ich im Wirtschaftsmagazin brand eins einen Artikel ueber die Elektronikkette Best Buy und ihr vermeintlich revolutionaeres Arbeitszeitsmodell. Die Angestellten des US-amerikanischen Unternehmens duerfen sich ihre Tage offenbar vollkommen frei einteilen und muessen waehrend der Arbeit nicht einmal im Buero anwesend sein. Results-only work environments lautet der Fachbegriff fuer diese Art von Arbeitsorganisation, bei der allein die Ergebnisse zaehlen. weiterlesen »

  • Arbeit und Zeit: “Schon wieder Sommer”

    “Nun lauf doch nicht schon wieder so schnell. Du immer mit Deinem Berliner Schritt.” Unzaehlige Male hat Sebastian Sooth diesen Satz in Leipzig schon gehoert. Sein Alltag in der Projektberatung und -umsetzung besteht darin, viele Dinge gleichzeitig zu machen. Als selbststaendig taetiger Mensch schafft er sich seine Beschleunigungszwaenge leider selbst. Zehn Minuten auf etwas zu warten, dauert natuerlich laenger, als nur noch zehn Minuten zu haben, bis ein Projekt erledigt sein muss. Und so bewegt sich sein Leben zwischen den beiden Polen “Zeit hat man nicht, Zeit nimmt man sich” und “Koennt ich doch die Zeit vordrehen!”. weiterlesen »

  • Wallraff reloaded

    Was ist das Eigene und was das Andere? Die Grenzen zwischen beiden sind immer fliessend, so dass man sagen koennte, eine Beschaeftigung mit dem Anderen bedeutet auch eine Beschaeftigung mit dem Eigenen. Hier geht es um eine Horizontenverschmelzung und eine Horizontenueberlappung. Das wurde mir bewusst, als ich begann, Biographien zu schreiben. weiterlesen »

  • Ohne Zeit keine Zeitigung

    Beschleunigungen bestimmen zweifellos in wichtigem Masse die gesellschaftlichen Prozesse in den letzten Jahren. Sie sind unvermeidlich und unumkehrbar. Grundlage und Ursache ist die technologisch bedingte enorme Beschleunigung der Informationsvermittlung, der Zuwachs an Informations- kontakten und an Informationsmengen. Wenn, wie in vielen Bereichen, die informationellen Kontakte problemlos alle lokalen, regionalen, nationalen und gar kontinentalen Grenzen ueberschreiten, also Information und Kommunikation nicht mehr verortet ist, wird die Anforderung an die Schnelligkeit der Informationsverarbeitung hoeher, der individuelle Produktionsdruck steigt. Oder: Wer schnell kommuniziert, aber die erhaltenen Informationen nicht ebenso schnell zu Erkenntnissen oder Produkten verarbeiten kann, kommt in Konflikt mit aeusseren Anforderungen und dem eigenen Selbstbewusstsein. weiterlesen »

  • Effizient träumen

    Jaja, die liebe Beschleunigung… Sie ist als Zeitgeistphaenomen zu Recht etwas in Verruf geraten. Albert Einstein hat in bemerkenswerter Ruhe und vielleicht deshalb so genial rein mathematisch nachgewiesen, dass Masse mal Beschleunigung Energie ist. Bei gleich bleibender Masse wuerde also eine Beschleunigung der Beschleunigung zwangslaeufig einen hoeheren Energie-Output liefern. Das waere natuerlich super. Wenn Beschleunigung aber nur den Zwang zu blinder Selektion bedeutet, zu blinder Anpassung und zu blindem Sturz in den Mainstream, dann verliert man selber an Masse und Klasse und senkt per Saldo die selbsterzeugte Energie. Wenn Beschleunigung also Anpassung im Sinne von Fremdbestimmung bedeutet, dann fuehrt sie zu einer Art Enthirnung und, genauso schlimm, zu einer Entherzung der ganzen Gesellschaft. weiterlesen »

  • Im Cockpit der Wahrnehmung

    Dem Druck der Zeit zu entsprechen – das heisst ja immer konkret: fick mich, ruf mich an, fuell mich aus, rechne, denk nach, kauf mich, fahr mich, nimm mich, mach mich kaputt! Ich begegne diesem Dauerdruck, indem ich einfach morgens total beschleunige und moeglichst schon vor dem Wahnsinn alles erledige. Dann gehe ich an die Isar stundenlang oder in den Englischen Garten- oder beides. weiterlesen »

  • Gravuren des Kapitalismus

    Ich bin in einem franziskanischen Gymnasium zur Schule gegangen. Da gab es den Bruder Stanislaus, der Gaertner des Klosters. Ich habe ihn oft beobachtet, wie er mit extremer Langsamkeit die Rosen schnitt. Also er schaute, er schaute lange, er schaute sehr lange, um dann noch langsamer den Arm zu heben, dann den Schnitt setzte und dann wieder schaute. So ging das stundenlang und es schien, als ob er sich kaum von seinem Platz bewegte. Der Mann war damals um die 70 Jahre alt und er konnte nicht mehr mit geradem Kreuz stehen. Also ich meine, er hatte so was wie einen Buckel. Wie er ganz oben an die Straeucher, Rosen etc. kam, ist mir ein Raetsel. Der Garten war aber immer tip top. Irgendwann einmal fragte ich ihn, wie er das mache, dass alles so ueppig gedeihe und spriesse. Er sagte, das liege nicht an ihm, er da oben mache das und dann sprach er noch von Bruder Unkraut. weiterlesen »

  • Was Neuheit bedeutet

    In einer Tageszeitung denkt man im Grunde niemals an Heute, sondern immer nur an morgen. So werden Themen auch nicht davon bestimmt, wie sie bereits diskutiert worden sind, sondern was man aus ihnen noch machen kann. Dieser Arbeitsalltag hat sich durch das Internet ungeheuer beschleunigt. Denn anders als bei Printmedien wird im Netz unentwegt aktualisiert, was zur Folge hat, dass die Zeitungen der unverbrauchten News noch mehr hinterher rennen. weiterlesen »

  • Irgendwann machts “ping”!

    Zeit kommt bei mir in den letzten drei Jahren hauptsaechlich in der Kategorie sinnlosen Verstreichens vor. Das hat damit zu tun, dass ich zwei entscheidende Fehler verantworte, deren Folgen ich mit erheblichem buerokratischen Aufwand abzuarbeiten habe. weiterlesen »

  • Gegenwart als Politikum

    In epochaler Abgrenzung zur modernen Kunst benennt das Fach Kunstgeschichte mit dem Label zeitgenoessische Kunst meist die Kunstproduktion ab etwa 1960, weil sich fortan ihre Medien und Gattungen verschraenkt haben und weil seitdem an breiter Front – nicht mehr nur ausnahmsweise – die Grenzen zwischen Kunst und Leben, freier und angewandter Kunst erodieren. Eine gegenwartsnaehere Epoche ist bislang nicht ausgerufen worden. Das wird mittelfristig wohl auch nicht mehr passieren, denn die Vielstimmigkeit der Kunst ist einfach zu gross geworden und moeglicherweise loest sich das Fach durch seinen Trend zur Bildwissenschaft demnaechst sowieso auf. weiterlesen »

  • Zeit für eine Welt

    Ich bewohne einen Alptraum, ein kleines Zimmer, in das nur ein Bett passt, und selbst das Bett hat noch eine Zementplatte ueber dem Fussende, um dem Raum eine Art Schweizer- Taschenmesser-Multifunktion zu geben. Die Menschen, die auch in diesem Haus leben, sind unglueckliche Neuankoemmlinge, die um jeden Preis versuchen, sich in die Dynamik Mexico Citys einzufinden… aber eher noch diejenigen, die sich dagegen wehren, von ihr ausgespuckt worden zu sein. Wir klammern uns alle irgendwie verzweifelt fest. weiterlesen »

  • Gelebte Zeiten

    Mein Arbeitsbereich ist die Uni. Beschleunigungsmoeglichkeiten – und damit einhergehend Beschleunigungszwaenge – zeigen sich dort gegenwaertig durch technische Entwicklungen (Internet, Computer, Vervielfaeltigungstechniken), durch institutionelle Oeffnungen (akademischer Disziplinen, Arbeitsmaerkte, Kommunikationskanaele) und durch den starken Druck zu Wirtschaftlichkeit und globaler Wettbewerbsfaehigkeit des Unibetriebes. Diese Beschleunigungszwaenge fuehren in den Arbeitszusammenhaengen, in denen ich mich bewege zu einem Herumexperimentieren mit Moeglichkeiten des Zeitsparens hinsichtlich der Textaneignung, der Textproduktion, der Seminarvorbereitung und – durchfuehrung, der Beschaeftigungszeit pro Studierendem ohne dabei die Qualitaet der Ergebnisse zu vermindern. weiterlesen »