Ich habe es getan, ich war unartig. Ich habe ihn angestarrt. Es geschah im Schnellzug aber auch im Flugzeug. In Wartehallen und Cafés, Flughafenbussen und vor Zugtoiletten. Überall. Ekelhaft. Peinlich.
Ich fand meinen persönlichen Feind im ICE mit großer Selbstverständlichkeit auf meinem Fensterplatz sitzend vor: Über seinen Laptop gebeugt, dunkelblond, stetig nach oben drängender Haaransatz, krawattenloses Hemd, dessen unterster Knopf zu spannen begann und eine dieser randlosen Brillen.
Nennen wir ihn Ludger, obwohl er Max hieß. Aber Ludger gefällt mir viel besser. Mit routinierter Dreistigkeit log er mich an, er sei rechtmäßiger Inhaber des Fensterplatzes, er habe reserviert.
Wohl wissend, dass für diese Sitzreihe keine Reservierung vorlag, weder seine noch meine, ergab ich mich stumm, da mir seine seelische Nacktheit sofort ins Auge sprang. Schon begann er eine ausführliche elektronische Korrespondenz, dabei meine Wenigkeit komplett ignorierend.
Söldner des politischen Berlin…
Als junger Fernseh-Journalist in Berlin war das Lügen für ihn nur eine schnucklige Fingerübung. Seine Korrespondenz widmete sich nur sehr kurz der Arbeit. Sie diente eher dem heiligen Netzwerk. Der Karriere. Man schob sich kleine Lehraufträge zu und wusch digital mit einer Hand viele andere.
Er war also einer jener Seelennudisten, wie ich sie regelmäßig erlebte. Diese Spezies lädt gerne zu einer Art seelischer Darmspiegelung ein. Durch bloßes Zuhören lernt man rasch, dass Demokratie vor allem aus Lobbyarbeit besteht. Entscheidungen werden nicht mittels Wahlen, sondern durch Zuträger erwirkt.
Demokratisch daran ist, dass es unzählige dieser Kräfte gibt, die an der Macht zerren. Meist sitzen solche Wesen dann neben mir und telefonieren sehr laut. Oder zeigen mir, als völlig Unsichtbarem, quasi ungeniert ihre Korrespondenz.
…mit genderpolitisch korrekten Hermaphroditen
Im Gang des überfüllten Zuges marschierte hinter Ludgers Rücken ein Wiedergänger von Heinrich Manns Untertan auf und ab. Am Telefon ständig mit den Namen aller politischen Parteien hantierend, erging er sich wechselweise im unterwürfigen Singsang eines Algier-Französisch oder in bellendem Kasernenhofton. Eine menschliche Schabe also. Die überleben ja auch Atomkriege.
Natürlich war mein liebenswürdiger Sitznachbar nicht alleine auf Reisen, sondern in reizender Gesellschaft. Oft nicht sehr homogen strukturiert, überschreitet sie alle Berufsgruppen der Zuträgerei, sämtliche Weltanschauungen und vor allem: Geschlechtergrenzen!
Eine insektoide Spezies von Hermaphroditen. Als Frauen geborene Lebewesen negieren gerne textil die Existenz primärer und sekundärer Geschlechtsteile. Ehemals männliche Exemplare verweichlichen etwas linkisch und schwemmen ohne Bartwuchs auf. Testosteron und Östrogen genderpolitisch korrekt verteilt. Konsenspflicht.
Das Warten auf die Lücke
Während Ludger mehr und mehr auch meinen Fußraum für sich zu beanspruchen begann, musterte ich ihn sehr genau. Interessant sind oft die versteckten Brüche solcher Persönlichkeiten, die Momente des Aufreißens der Kruste. Nach dem Wochenende in der Heimat mit Familie und Freunden, nun auf dem Weg in den großen, sie zerwringenden Moloch, zeigen diese Arthropoden mitunter Schwächen in ihrer erlernten Panzerung.
Bei persönlichen Gesprächen führt der Zwang zu verbindlichen, privaten Emotionen mitunter zu seltsam brüchigen Stimmen, bisweilen huscht sogar verstohlen ein fast menschliches Lächeln über ihre Gesichter. Auf solch winzige, wahrhafte Momente warte ich gerne eine ganze lange Zugfahrt. Denn es ist die Sollbruchstelle, die offene Lücke, die mich fasziniert.
Ludger bot mir leider keinerlei menschliches Momentum. Er packte routiniert beisammen und entstieg dem Zug, eins mit sich selbst und seinem feinen Seilschaftsleben. Irgendwie sehr unheimlich. Aber eines Tages wird auch er sich eine Blöße geben, mein kleiner Ludger, ganz sicher. Dann werde ich zur Stelle sein, ihn ausgiebig anstarren und jede verdammte Sekunde dabei genießen.
35 Kommentare zu
George Bernard Shaw
kratiearbeiter, das lässt viele interessante rückschlüsse zu. -oder hat sich hier möglichweise der ein oder andere persönlich betroffen gefühlt?