Es ist anzunehmen, dass ein Großteil der Nachrufe auf Christoph Schlingensief, die veröffentlicht wurden und werden schon ein paar Monate, Jahre gar, in der Schublade lagen. Es war ja, wie es heißt, “abzusehen”. Dieser hier nicht. Nachrufe auf Helden schreibt man erst, wenn es sein muss. Und genau das war Schlingensief: Ein Held. Der Autor Fabian Wolff erklärt, warum.
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Christoph Schlingensief gehört zu den Künstlern, zu den Menschen, die mir wenn nicht das Leben, dann doch die Seele gerettet haben. Es war Herbst, auf den Straßen und in meinem Herzen, dabei war es eigentlich nur eine dieser typischen Pubertätskrisen.
Ich weiß gar nicht mehr, was genau mein Trübsal ausgelöst hat, es wird wohl irgendwas hübsch Allgemeines und Allumfassendes gewesen sein. Ich lief Gefahr, einer dieser zynischen jungen Männer zu werden, denen alles scheißegal ist, weil ja sowieso jeder Mensch in seiner eigenen kleinen Blase der verzweifelt individuellen Hoffnungslosigkeit lebt. Man kennt das.
“Der meint es ernst”
Dann kam Freakstars 3000, in einer wohl von Alexander Kluge angestoßenen Ausstrahlung im VOX-Nachtprogramm. “Castingshow-Parodie” trifft es nicht, es sei denn, man ist einer jener Zyniker. “Hymne” schon eher. Auf jeden Fall Kunst.
Weil Schlingensief mit geistig behinderten Menschen wie mit nichtbehinderten Menschen umging, wurde ihm Ausbeutung, Bloßstellung vorgeworfen. Auf mich wirkte und wirkt das wie Humanismus. “Ein Augenblick der Gnade, des Paradieses” hat jemand mal Boogie Nights (ein anderer großer Film für mich damals) genannt – er hätte auch “Freakstars 3000” meinen können, finde ich.
Da ist nichts Ausstellendes an den Momenten, in denen Achim von Paczensky davon erzählt, wie er seine Frau Helga kennengelernt hat, oder in denen Mario Garzaner Zeit mit seinen Eltern verbringt oder in denen Christoph Schlingensief so wild mit seinen Darstellern auf Trampolinen herumspringt, dass er für den Rest des Films ein großes Pflaster am Knie hat. Dieses Pflaster, das war für meine Mutter damals der Beweis: Der Schlingensief, der ist gut, der meint es ernst.
Ernsthaft traurig, ernsthaft albern, ernsthaft wütend: Hauptsache ernsthaft. Er hat immer seine eigenen Ideen umgesetzt, seine eigenen Gedanken gehabt. Wenn Schlingensief in “United Trash” einen kleinen schwarzen Jungen mit Vagina auf dem Kopf auftreten lässt, aus denen die UNO Raketen abfeuern möchte, dann meinte er das auch so. Und wenn er der angegreisten Beate Uhse in “Talk 2000” wütend die Frage ins Gesicht wirft, wie viele ihrer Fickfilm-Darsteller denn an AIDS erkrankt sind, weil sie keine Kondome benutzen dürfen, dann auch.
Moralisten machen keine Schlagzeilen
Denn Schlingensief war kein Bullshitter. Er musste nicht bei Performances den Hitlergruß machen und sich ganze Bananen ins Maul stopfen oder sich bei Vernissagen als violetter Hund verkleiden, um als einzigartig wahrgenommen zu werden. Vielleicht ist “authentisch” das richtige Wort.
Und er war tatsächlich ein politischer Künstler, der aber nicht mit Pop-Symbolik spielte oder in tellurischen pseudo-soziologischen Gefilden herummalte, sondern deutliche Worte fand. Seine Reaktionen auf Jörg Haider – das Projekt “Ausländer raus! Schlingensiefs Container” – und Helmut Kohl – ein Banner auf der documenta X, das zu seiner Verhaftung führte – waren konkret, drastisch, und eben auch ehrlich.
Aber “leerer Provokateur“ ist ein besserer Aufmacher als “Moralist”. “Schlingensief lässt seine übliche Parade von Behinderten auf die Bühne marschieren” ließ die erstaunlich verachtenswerte Sendung “kulturzeit” über ihn verlauten. Einmal schafften es sogar Kokaingerüchte in die Bunte. Wer solche furchtbaren Sachen macht, der muss ja Drogen nehmen.
Ohne Schutzhülle, ohne ironische Fassade
Einiges davon änderte sich, als seine Erkrankung öffentlich wurde und er sein Stück Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir aufführte, das tief in seine Furcht, seine Wut, seinen Schmerz, sein Inneres vordrang – ohne Schutzhülle, ohne ironische Fassade. Schon sein Buch “So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein” wurde schon wieder als Teil eines “Krebs verkauft sich”-Trends auf dem Buchmarkt gesehen.
Er hat den Kampf gegen den Krebs nicht verloren. Nein, er hat ihm noch Zeit abgerungen, stets mit der Hoffnung, vielleicht ja doch noch ein bisschen länger da sein zu können. Ja, man möchte heulen und schreien, so kalt und zynisch und furchtbar geht es manchmal in der Welt zu. Vielleicht ist Schlingensief nicht mehr da, aber sein Mut, seine Wut, sein Humor, seine Gnade, die bleiben. Fehlen wird er trotzdem.
10 Kommentare zu
Danke für den Nachruf.
Großer Mann, keine Frage.
Mich hat diese Beobachtung als jemand, der sich lange, intensiv mit der Kultur vor Ort auseinandergesetzt durchaus verwundert, ein wenig überrascht, es war mir nicht so stark aufgefallen. Kurz, ein eye opener.
Von all den vielen BesucherInnen Japans während meines siebenjährigen Aufenthalts kann ich mich an keine vergleichbare Situation erinnern.