• Seismograph der Sinnsysteme

    Allstar-Teams begegnet man heute so gut wie ueberall. Ob im Kino, TV oder Sport. Gepraegt wurde diese Idee nach dem Zweiten Weltkrieg in der Musikbranche. In der ersten Hochphase der Allstar-Bands zwischen 1945 und 1960 rekrutieren sich Mitglieder solcher Combos meistens aus Jazz- und Rockbands. Die symbolische Funktion jener Allstar-Formationen war indes mit der damals ebenfalls in Erscheinung tretenden UNO-Tagungskultur vergleichbar: In der chaotischen Nachkriegszeit half die Weltauswahl, die Welt zu ordnen. Den maechtigen Staaten gleich, stellten die glaenzenden Groessen des Allstar-Teams Orientierungs- und Fixpunkte dar. Diese Funktionslogik scheint auch heute noch zu greifen, in Zeiten, da das Allstar-Ensemble in allen Bereichen der Kulturproduktion zu Hause ist. Natuerlich laesst sich nicht alles ueber einen Kamm scheren. Ausserdem gibt es Zweifler. Robert Altman zum Beispiel. Wie kaum ein anderer hat er dieses Modell in Frage gestellt.

    Obwohl der juengst verstorbene US-Regisseur mehr als 80 Filme gedreht hat, ist er heute lediglich fuer eine Handvoll bekannt, die jeweils nach seinem Durchbruchserfolg MASH (1970) und nach seinem Comeback-Hit The Player (1992) entstanden. Die Altman-Reihe, die gerade im Berliner Filmkunsthaus Arsenal auslaeuft, hat sich nun nicht die ganzen Versaeumnisse vorgenommen, sondern ein wichtiges Leitmotiv dieses sperrigen Oeuvres ins Blickfeld gerueckt: den Vielpersonenfilm, den Altman mit dem wuchtig- maeandernden Nashville (1975) praegte und dem er in Produktionen wie A Wedding (1978), Short Cuts (1993), Pret-a-Porter (1994) und A Prairie Home Companion (2006) stets neue Facetten abrang. Mit einem spektakulaeren Staraufgebot von bis zu 20 Figuren bliess Altman immer wieder zum Angriff auf die ueberkommene Idee des Allstar-Ensembles als Weltordnungsbewahrer. Mit seinen nicht selten hochkaraetigen Aufgeboten liess er Staedte, Gesellschaften, Industrien und Unterhaltungshows entstehen, um die Beschaffenheit und Fragilitaet dieser Welten oder besser noch: Sinnsysteme vorzufuehren.

    Altman war mit seinen Allstar-Filmen ein Dekonstrukteur im wahrsten Sinn dieses haesslichen Wortes: Er stellte in immer wieder neuen Anlaeufen die Konstruktionsprinzipien unterschiedlicher Sinnsysteme aus. Altman: I am not telling a story, I am showing. Er zeigte die Super-Architektur als Skelett: nackt und bruechig. Und irritierte damit viele. Der Kulturkritiker Greil Marcus etwa, sah in Nashville eine Orgie des Ja, als Nein maskiert. Er meinte ein Ja zum Zusammenbruch des Systems, zum Verfall der Werte, kurz: zum (schleichenden) Untergang der Welt. Doch waren Altmans zynische Visionen wirklich einfach nur Bestaetigungen dafuer, dass unser Experiment gescheitert ist, so dass wir uns nicht mehr mit den gefaehrlichen, unberechenbaren Zielen unseres Handelns beschaeftigen muessen? Wenn Altman Welten aus den Fugen geraten liess, dann nicht nur um zu zeigen so sieht die Konstruktion von Innen aus, sondern auch um ein Danach in Aussicht zu stellen. Bestes Beispiel: Das grosse Beben am Ende von Altmans epischem L.A.-Film Short Cuts. Der Erdrutsch verbindet alle Figuren – von Tim Robbins, ueber Tom Waits bis hin zu Robert Downey Jr.; laesst sie erstmals als Teil eines grossen Ganzen erscheinen, das just in diesem Moment unterzugehen droht. Am Tag danach geht jedoch eine neue Sonne im Leben aller auf.

  • Eine Gleichzeitigkeit von Moment und Dauer

    In seinen Bildern eroeffnet Marcel Odenbach mehrere Ebenen des Sehens. Aus einigen Metern Entfernung sehen wir figuerliche Darstellungen, die in ihrer Momenthaftigkeit Filmstills aehneln. Der Blick faellt auf sorgsam konzipierte Bildausschnitte, vage deutet sich eine Erzaehlung an – so als schalte man ganz unvermittelt einen Film ein. Wenn wir uns dann naeher auf die Bilder zubewegen, schwindet das eben noch Gesehene und verliert sich in einer ornamentalen Flaeche aus papiernen Fetzen.

    Eine unruhige Musterung durchzieht das Bild und loest die Logik des dreidimensionalen Bildraumes auf. Um die Papierschichten vollstaendig zu erkennen, muessen wir noch naeher heran gehen. Zahllose winzige Bilder tauchen hinter und in der abstrakten Musterung auf. Es sind Bilder, wie man sie aus Zeitschriften kennt. Bilder von Politikern, Pornostars, irgendwelchen Personen. Erkannte man aus der Distanz eine einzelne Szene, so blickt man nun auf eine Flut von Fotografien.

    Mit der Erzeugung der verschiedenen Bildebenen erreicht Odenbach eine Gleichzeitigkeit von Moment und Dauer. Die einzelne Geschichte steht nie ganz fuer sich allein, sondern immer im Zusammenhang mit einer Reihe von Szenen, Ereignissen, Momenten. Zwischen den beiden Polen des Sehens – der Naehe und der Distanz – verschwindet das konkret Sichtbare in einer abstrakten Struktur. Diese erzaehlt nichts; hier herrscht Gleichgueltigkeit gegenueber Ausdruck und Tiefe, Anfang und Ende.

    Marcel Odenbachs Papiercollagen sind Zitate der visuellen Sprache der Medien. Jedoch erhebt er nicht den Vorwurf, dass diese, Simulacren gleich, auf nichts mehr verweisen. Vielmehr scheinen die Bilder fuer Odenbach eine sehr urspruengliche Bedeutung zu haben. Aehnlich Bildern aus der Vergangenheit, die in der Gegenwart wieder auftauchen, liegt ihr Raetsel in ihrer moeglichen Gleichzeitigkeit.

  • Charlotte Chronicles.20 [Bogotá Remix]

    Die letzten zehn Tage verbrachte ich auf Reisen in Kolumbien und resuemierte am Ende dieser Zeit meinen Aufenthalt hinsichtlich Begegnungen mit deutschen Einfluessen oder Wurzeln. Solche gibt es in den verschiedensten Bereichen, zum Beispiel bei den Kuehen: Neben Zebus, die fuer Europaeer eher exotisch aussehen, sieht man auf den Feldern oder am Strassenrand haeufig auch die gleichen Kuehe, die einen auf einer deutschen Weide wiederkaeuend anstarren wuerden. Eine Anfrage bei meinen kolumbianischen Begleitern nach dem spanischen Namen wurde mit der durchaus unerwarteten Bezeichnung >Holstein< (sprich: >Holstihn< mit scharfem s) beantwortet.

    Bei einer Silvesterfeier, die im >inneren Zirkel< von etwa 20 Personen einer kolumbianischen Familie begangen wurde, war ich die ersten zwei Stunden damit beschaeftigt, mir die Namen aller Anwesenden einzupraegen. Nach dem erfolgreichen Meistern der Grossmuetter, geriet ich bei den acht Onkeln und Tanten arg ins Schwitzen, weshalb ich nach einiger Zeit in meiner Verzweiflung dazu ueberging, auf einem kleinen Zettel einen Stammbaum anzulegen. Dabei lernte ich unter anderem, dass zwischen Blutsverwandtschaft und angeheirateten Verwandten unterschieden wird; man spricht in letzterem Fall von >politischen Onkeln< oder Tanten. Einer dieser Onkel wurde >Hermann< ausgesprochen, doch als ich von einer der unzaehligen Cousinen genealogische Hilfe beim Anfertigen des Stammbaums erhielt, stellte ich ueberrascht fest, dass er sich >Germán< schrieb. Weitere Nachfragen ergaben, dass dieser Name durchaus verbreitet ist und ich wage die These, dass es sich hierbei um das Erbe deutscher Einwanderer handelt.

    Darueber hinaus begegneten mir einige deutsche Familiennamen in Gestalt von Firmenbezeichnungen. So trug auf den bergigen Strassen die Anden hinauf jeder zweite der LKWs, hinter denen man andauernd feststeckt, die Bezeichnung >Inca Fruehauf<. An anderer Stelle grinste mir ueber einem Stand ein Schweinekopf unter der Ueberschrift >Nacken< entgegen. Ein Blick auf die angebotenen Produkte bestaetigte, dass es dort keineswegs nur Schweinenacken gab, sondern dieses vermutlich ebenfalls der Familienname des Firmengruenders war. Zum Schluss noch ein kleiner Bonuswitz fuer diejenigen, die sich in der hannoverschen Bierszene etwas auskennen: In einem Feinkostladen fuer europaeische Importprodukte in Bogotá entdeckte ich >Lindener Spezial< in der Dose… Sie stand in einem Bierregal, welches sich zwischen dem Champagnerbereich und den hochwertigen Pasteten befand. Die Verkaeuferin schaute sehr interessiert, als ich nach einem kurzen Lachanfall die Dose fotografierte. Nachdem sie solch besondere Aufmerksamkeit erfahren hat, wird ihr bestimmt bald ein exponierter Platz im Schaufenster zuteil.

  • Das Beschleunigungsregime

    Manchmal fragen mich die Leute nach Vortraegen, ob mein Interesse fuer Beschleunigung mit meinem hohen Redetempo zusammenhaengt. Ich antworte dann meistens, dass ich da eher eine Verbindung zu meinem langsamen Essenstempo sehe: Da ich sehr langsam esse, bin ich am Tisch meistens der Letzte, was dazu fuehrt, dass die anderen unruhig auf den Tisch trommeln und mich unter Beschleunigungsdruck setzen. Aber wirklich angefangen, mich fuer Beschleunigung zu interessieren, habe ich, als ich ueber ein Oedoen von Horvath zugeschriebenes Bonmot nachdachte, das da lautet: “Eigentlich bin ich ganz anders, nur komm’ ich so selten dazu”. Das traf irgendwie genau meine Lebenserfahrung: Man hetzt von Termin zu Termin, mal privat, mal beruflich, und hat dabei das Gefuehl, nie zu den Dingen zu kommen, die einem wirklich wichtig sind. Und da wollte ich eben wissen, ob das an mir selbst liegt, ob ich also etwas falsch mache, oder ob man auf diese Weise einem Strukturproblem moderner Gesellschaften auf die Spur kommt. Und siehe da – je laenger ich darueber nachgruebelte und nachforschte, um so klarer zeigte sich: Das Problem ist sozusagen in die Wurzeln der Moderne eingelassen. weiterlesen »

  • >Mahl< >Zeit<

    Ich hab alles versucht. Ich hab mich auf die Strasse geworfen und geschrieen wie ein Baby. Ich bin tagelang rueckwaerts gelaufen. Ich hab sogar an der Uhr gedreht. Keine dieser Massnahmen hat auch nur irgendwas bewirkt. Die Zeit laeuft mir davon. Die Uhr tickt. Ich kann nichts dagegen tun. Ich glaube das ist schon meine Midlife-Crisis – mit 23. Klar, alles passiert den Menschen heute ja immer frueher. Weil nicht genug Zeit ist. Den ersten Sex hat man mit elf. Den ersten festen Freund mit zwoelf, etc.

    Nun probiere ich seit ein paar Tagen etwas ganz Neues aus, um das Vergehen der Zeit zu verhindern. Ich messe meine Zeit nicht mehr in Stunden und Minuten, sondern in Mahlzeiten. Mein Bauch sagt mir wie spaet es ist. Das funktioniert bis jetzt ganz gut. Wenn ich mich zum Beispiel mit meiner Freundin verabrede, dann treffen wir uns einfach zum Fruehstueck – kein Problem. Ich zieh meine neue Zeitrechnung jetzt seit 13 Mahlzeiten durch. Ich glaub heute muss ich zur Arbeit. Schaetzungsweise in zwei Mahlzeiten (Mittag und Kaffee + Kuchen). Mal sehen wie das so klappt.

    Auf meinem Computer hab ich die Uhr unten rechts ersetzt. Da stehen jetzt keine verwirrende Zahlen mehr, sondern kleine Icons. Jetzt ist da gerade ein Croissant zu sehen. In Ihrer Zeitrechnung, werter Leser, ist es jetzt also zwischen acht und elf. Das Praktische ist, dass ich das Vergehen der Zeit beeinflussen kann. Ich kann Zeit sparen, in dem ich spaeter fruehstuecke, oder ich kann die Wartezeit auf freudige Ereignisse verkuerzen (zum Beispiel ins Kino gehen mit meinem Freund) indem ich gleich nach dem Aufstehen Abendbrot esse. In einigen Mahlzeiten erfahren Sie mehr von meinem Experiment!

  • Leeres als Quelle der Kreativitaet

    Das ist die neue Zeit: Die Leermittelabgaben stellen jedoch fuer Urheber eine wichtige Einkommensquelle dar. Das Nichts als Einkommensquelle. Wie sagt man doch, auf Nichts ist mehr Verlass.

  • Choreographie des Uebergangs

    Die Bewusstseinsindustrie hat ein neues Sorgenkind – den Wechsel. Ob Wohnort-, Partner- oder Jobwechsel, Regime- oder Regierungswechsel, Jahreszeiten- oder Jahreswechsel, es wird im zunehmenden Masse schwieriger die Uebergaenge als Einschnitte zu markieren. Nicht zuletzt, weil die Systeme immer ununterscheidbarer und auswechselbarer werden. Symptomatisch in diesem Zusammenhang: der Irak. Hier sollte es ein dicker Crossmarketingdeal richten: Regime- coupled with Jahreswechsel. Ein geradezu praezedenzloses Doppelwechselpaket. Statt des ersehnten Multiplikatoren- effekts, zeigt sich jedoch: Nach dem 31.12. ist vor dem 31.12. Ob Jahresrueckblicke diesen Umstand verbuchen werden?

    Doch wer interessiert sich noch fuer Jahresrueckblicke? Ja, es kann durchaus amuesant sein, den einen oder anderen zu lesen. Aber der Aufwand, der getrieben wird, um das vergangene Jahr zu verpacken, steht in keinem Verhaeltnis zum Bedarf. Wer brauch schon die ganzen Listen, Buecher und Analysen im Zeichen der just verstrichenen Zeitspanne? Ueberfluessig auch die Vielzahl so genannter Polls – jene Auswertungen von Meinungsumfragen, die den Jahresrueckblick zur Parade der Demokratie werden lassen. Wir brauchen sowas nicht. Wir was anderes. Instrumente, die besser erfassen, was ein Jahr ausmacht. Schliesslich kann es nicht reduziert werden auf ein paar Dinge, die zwischen dem 1.1. und dem 31.12. passiert oder ein paar Produkte, die in diesem Zeitraum auf den Markt geworfen worden sind.

    Ein Beispiel: Die Musik der britischen Band Bloc Party taucht in keinem 06er Ranking auf. Silent Alarm erschien 2005. A Weekend in the City kommt dieses Jahr. Und doch haben beide Alben in 2006 die Hoergaenge von (Audio-Download-) Massen okkupiert – beispielsweise meine. Problematisch auch, dass Jahresrueckblicke meistens schon fertig sind, bevor das Jahr zu Ende ist. Aus dem Gesichtsfeld rueckt nicht zuletzt der mit ihrer Hilfe besiegelte Jahreswechsel. Bei mir persoenlich war Silvester dieses Mal wieder nur im Rueckzugsmodus ertraeglich. Gerne blicke ich auf meine Zeit in Japan (1992-98) zurueck, wo dieser Modus fuer alle verbindlich ist. Silvester und der 1.1. werden dort ein wenig wie Weihnachten bei uns gefeiert: still, im Rahmen der Familie. Die Strassen sind leergefegt, es gibt keinen Verkehr. Totaler Stillstand herrscht. Allein der Fernseher laeuft.

  • Ich bin keine Exhibitionistin

    Jahresrueckblicke sind mir suspekt. Grosse Redaktionen moegen in wochenlanger Arbeit Bilder des Jahres oder Zitate des Jahres zusammenklauben – wahrscheinlich entstehen so kurzfristig sogar Jobs fuer freie Mitarbeiter. Doch die Frage nach dem persoenlichen Hoehepunkt des vergangegenen Jahres muss nun wirklich nicht sein. Meine eigenen Highlights im Stil eines schoensten Ferienerlebnisses preiszugeben, empfinde ich als Zumutung. Ich bin schliesslich keine Exhibitionistin. Mal ehrlich: Interessiert es Sie, dass ich in Sibirien war, und an Schulen Workshops zum Thema Menschenrechte durchgefuehrt habe? Dass gute Freunde angekuendigt haben, die Stadt zu verlassen und dann doch geblieben sind? Ich langweile Sie? Das war Absicht.

    Seit Ende letzten Jahres, genaugenommen seit meinem Umzug ins neue >In-Viertel Berlins<, muss ich nicht mehr frieren. A highlight indeed. Kein Kohleofen zwingt mich mehr, bis spaet in die Nacht in Bibliotheken oder Kneipen auszuharren. Meine Kleider riechen nicht laenger nach Tod. Dafuer habe ich jetzt einen kiffenden Nachbarn. Kiffer fand ich immer schon cool, zumindest aus der Ferne. Angenehmer als Jungs mit einem Faible fuer Feuer. Die gibt es hier in Nova Colonia auch. Einen Tag vor Weihnachten brannte es lichterloh vor unserem Haus – irgendwelche schraegen Voegel haetten vor meinem Fenster fast eine Gaslaterne in die Luft gejagt, als sie zwei Roller anzuendeten.

    Eindruecklich klangen mir die Worte meiner Eltern in den Ohren, mit denen sie mir als Vierjaehrige zu erklaeren versuchten, warum sich einige Kinder im Kindergarten staendig daneben benahmen: Die haben es zu Hause nicht leicht, hiess es immer. Beim Anblick der qualmenden Gaslaterne war ich dennoch fassungslos. Es half alles nichts, unwillkuerlich griff ich zur Kamera und drueckte ab. Da ich dafuer die Digitalkamera meines kiffenden Freundes benutzen musste, hoffte ich auf eine unter dem Weihnachtsbaum. Leider blieb dieser Wunsch fuer’s Erste unerfuellt. Man kann ja nicht alles haben.

  • Religionskompetenz

    Als Bibelunkundiger hat man es nicht leicht, sich in unseren Kulturkreisen zurechtzufinden: Bildende Kunst, Musik oder Literatur zeugen von den tiefen Wurzeln des christlichen Glaubens und sind ohne die entsprechenden Grundlagen oft nicht zu verstehen. Das groesste Fest des Jahres zum Beispiel, welches wir hierzulande als Fest der Familie und des Friedens feiern, erinnert an diese Tradition: Weihnachten. Und natuerlich auch die obligatorische >Weihnachtsgeschichte<. Sie ist ein wichtiger Bestandteil der Bibel und erzaehlt von der alten Sehnsucht der Menschen nach einer Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens.

    Doch wer setzt sich heute damit noch auseinander? Vielleicht ein unpassender Augenblick, um nach Antworten zu suchen. Schliesslich ist das groesste Fest des just vergangenen Jahres jetzt schon wieder Geschichte. Haengt es mit seiner Naehe zum Jahresende zusammen, dass es so unglaublich schnell ad acta gelegt wird und wir uns darueber keine (unbequemen) Fragen stellen? Liegt es an den Mechanismen der Konsumgesellschaft, dass wir uns zwar das ganze Jahr lang auf Weihnachten freuen, diese Feiertage aber erst nur einige Wochen vorher spuerbare Realitaet werden und wir alle ploetzlich so unglaublich beschaeftigt sind mit den Vorbereitungen, dass zum Lesen der Bibel keine Zeit bleibt?

    Fragen, die mit Blick auf die eingangs erwaehnte Tradition genauso gestellt werden sollten sowie mit Blick auf die Idee eines christlichen Europa. >Christliche Werte als Schutzimpfung gegen Ueberfremdung und den Islam< - wir schlucken diese Beschwoerungsformel bereitwillig, aber sollten wir uns nicht vorher ihrer Grundlagen vergewissern? Es lohnt sich, das dicke Buch zur Hand zu nehmen und die inhaltslos gewordenen Zeremonien zwischen Gaensebraten, Tannenbaum und Geschenkeauspacken auf ein Sinnsystem zurueckzufuehren, welches heutzutage mal impliziter mal expliziter als letzter Rettungsanker dient. Wer grundsaetzlich an Zeitmangel leidet, sollte am besten heute schon mit der Lektuere beginnen.

  • Gefangen in der Gegenwart

    Ich bin Federal Agent Jack Bauer und heute ist der laengste Tag meines Lebens! So fingen bisher die haertesten Stunden von CTU-Agent Bauer (Kiefer Sutherland) stets an. Viermal hat er bereits im Auftrag der Counter Terrorist Unit (CTU) im Fernsehen ermittelt, fast im Alleingang Verschwoerungen aufgedeckt, Terroristen ausgeschaltet und moerderischste Anschlagplaene im letzten Moment vereitelt. Und all dies in jeweils genau 24 Stunden. Die Rede ist natuerlich von 24, eine der wenigen TV-Serien, die in Echtzeit spielt. Das heisst: jede Staffel umfasst 24 Folgen von jeweils einer Stunde Dauer und dadurch erleben die Zuschauer genau einen Tag im Leben der Charaktere.

    Ein fuers Fernsehen fast revolutionaeres Konzept, das aber nicht nur reizvoll ist, sondern auch fuer zusaetzliches Tempo sorgt. Da die oft kurz eingeblendete Uhr unaufhoerlich zu ticken scheint, verlaufen die Ermittlungen in einem ungeheuerlich schnellen Tempo – bis zum finalen Hoehepunkt. Inzwischen gibt es bereits Nachahmer. Auch im ARD-Tatort: Die Muenchner-Folge Ausser Gefecht, die im Fruehjahr zu sehen gewesen ist, hat ebenfalls in Echtzeit gespielt und die Handlung zudem genau um 20.15 Uhr begonnen.

    Jetzt hat das Original nachgelegt: Seit Mittwoch strahlt RTL 2 die neuesten Abenteuer von Bauer in Echtzeit aus. Doch wer den anfangs zitierten legendaeren Satz erwartet, der wird enttaeuscht sein. Agent ist Jack Bauer schon seit laengerem nicht mehr. Ganz im Gegenteil. Am Ende der vierten Staffel wurde er aus Sicherheitsgruenden fuer tot erklaert. Und nur ganz wenige Vertraute wissen, dass er in Wirklichkeit untergetaucht ist. Er lebt nun als Frank Flynn in einem Kaff in der Mojave-Wueste und verdingt sich dort als Tageloehner in einer Oel-Raffinerie. Auf Jack Bauer-Fanseiten haeufen sich derweil Verschwoerungstheorien. Vielleicht die schoenste: >Die USA wurden nicht mehr von Terroristen angegriffen, seit Jack Bauer im Fernsehen erschienen ist.< Und genauso ist dieser Typ: einfach unschlagbar!

  • Das Ende ist gekommen

    Ja, Sie haben richtig gehoert: Das Ende ist gekommen! Das Ende der deutschen Sprache sowieso, aber auch das Ende des Jahres 2006 ist nun greifbare Wirklichkeit. Aufhalten kann ich das ohnehin nicht. Zeit also, sich zurueckzulehnen und die Hitlisten des just vergangenen Jahres aufzustellen. Ausserdem hat die Redaktion schon nachgehakt, wo denn meine Top of the Pops 2006 blieben. Welcher Film hat mich 2006 am meisten bewegt? Ganz klar: >Flug 93<. Auch wenn Paul Greengrass mit seinem Doku-Drama nur die offizielle Version der Ereignisse des 11. Septembers wiedergibt und etliche Fragen gar nicht erst gestellt werden – so sehr gebannt hat mich in diesem Jahr kein anderer Film – von Matthias Glasners >Der freie Wille< mal abgesehen.

    Mein Buch des Jahres 2006? Auch wenn es aus dem laengst vergangenen Jahr 2004 stammt, so bin ich doch erst in diesem Jahr dazugekommen es zu lesen: Vom Leben gezeichnet: Tagebuch eines Endverbrauchers von Harald Martenstein. Mit diesem Buch bestaetigt Martenstein seinen Status als mein absoluter Lieblingskolumnist (Die Zeit), denn niemand schafft es, komplizierte Dinge so einfach und pointiert zu erklaeren, wie er. Beispiel: Was ist das – Leben? Das Leben ist wie eine Ski- oder Snowboardfahrt. Es geht staendig bergab, aber es macht verdammt viel Spass. Nun noch einige Hoehepunkte des Jahres 2006.

    Mahlzeit des Jahres: Original Meat-Pie mit Kartoffel- und Erbsenpueree beim River Thames Festival in London. Ausstellung des Jahres: Newton – Nachtwey – La Chapelle: Men, War and Peace in Berlin. Computerspiel des Jahres: Die Siedler 2 – Die naechste Generation. Theaterstueck des Jahres: Cyclops in der Interpretation von The Scoop in London. Unwort des Jahres: Killerspiele. Interview des Jahres: Gefuehl ekelt mich mit Harald Schmidt in Die Zeit. Groesstes Aergernis des Jahres: Trotz meines Studentenausweises bekomme ich ab diesem Jahr keine Ermaessigung mehr in Berliner Schwimmbaedern, weil ich zu alt bin. Alles weitere erfahren Sie von Dieter Thomas Heck.

  • Umnebelt von Sand

    Zivilisationsmuedigkeit – ein Begriff, der vor allem im 18. und 19. Jahrhundert breiten Teilen der europaeischen Bevoelkerung etwas bedeutete. Damals war es die anbrechende Industrialisierung; Maschinisierung der Arbeit; Entstehung von Fabriken; Urbanisierung, Konzentration allen Lebens in der Stadt und subsequente Ueberbevoelkerung staedtischer Raeume; Vereinzelung bei gleichzeitiger Vermassung der Gesellschaft; Entfremdung. Damals reagierten nicht wenige mit der “Zivilisationsflucht”. Paul Gaugin erschuf mit seinen Bildern die Ikonen einer Generation, die ihr Glueck in Uebersee suchte: Trostspendende Nacktheiten, selige Natur, wallendes Meer. Diese Bilder einer Gegenwelt zeigten alles, was der zivilisationsmuede Staedter nicht hatte. Sie waren erotische Entladungen eines gewaltigen Mangels. Aber was fehlt uns heute? weiterlesen »