• Psychedelische Echos aus dem Kinderzimmer

    Ich habe tief im reproducts-Archiv gegraben und ein einzigartiges musikalisches Kleinod zutage gefoerdert – einzigartig, weil dies die einzige Musikaufnahme ist, die es von reproducts gibt. 1992 hatte sich die Gruppe, deren Gruendungsmitglied ich bin, zu einem Wochenend-Workshop in das Tagungszentrum der SDUJ (Sozialistische Deutsche Unternehmer-Jugend) nahe des Kyffhaeuser-Gebirges zurueckgezogen. Waehrend des zwanglosen Beisammenseins am abschliessenden Sonntagabend tauschten die Mitglieder auch Privates aus. Die Stimmung war beherrscht von den Erlebnissen im Frankfurter Omen, im Berliner Planet oder im Hamburger Front. Ergriffen von der Kraft der neuen Musik war bald klar: Das wollen wir auch machen! Spontan griffen sich alle Mitglieder im Haus befindliche >Instrumente<: eine halbelektronische Orgel aus dem Theatersaal, diverse Rhythmusgeraete aus der Kueche, Polstergarnituren aus dem Aufenthaltsraum und Kaemme mit Butterbrotpapier- direkt aufgenommen mit SoundEdit in dem brandneuen Apple LC.

    Wir fuehlten uns hoechst inspiriert und interpretierten, ganz im Sinne des Prinzips, traumatische Klassiker unserer Kindheit neu – jene Weisen, die wir damals immer oben an der Treppe im Pyjama hoerten, waehrend in die Erwachsenen unten der Kellergeister fuhr. Ein rasantes Hammond-Inferno, wie wir meinten. Was wir zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht wussten: Wir waren alle schwer vergiftet und befanden uns in einem deliroesen Zustand. Die Kellog’s >Special K<-Flocken zum Fruehstueck waren angeschimmelt gewesen und fuehrten nun zu extremen Wahrnehmungsverschiebungen. In Wirklichkeit trampelten wir wie weidwunde Elefanten auf unseren meist improvisierten Instrumenten umher. Das staendige statische Knistern der uralten Mikrophone von Sternradio Berlin komplettierte dieses Zeugnis einer abgruendigen Verstoerung. Fuer alle Beteiligten war das Ergebnis so schockierend, dass seitdem kein weiterer Versuch unternommen wurde, Musik zu machen. Aber wer weiss, vielleicht sind Sie selbst dann oder wann in einem Zustand, der es Ihnen erlaubt, dieses Zerrbild wieder zu entzerren. Ein Ausschnitt dieser Ereignisse steht hier zum Download zur Verfuegung. Mutti_Darf_Mit_Ausgehen.zip (12,5 MB) enthaelt eine Sounddatei, die nach dem Entpacken in iTunes oder verwandten Windows-Produkten abspielbar ist oder ueber eine Brenn-Software als Audio-CD zu speichern ist. Wer sich das richtig schoen machen moechte, findet hier im Anhang Druckvorlagen fuer ein CD-Cover mit Vorder- und Rueckseite sowie ein CD-Label.

  • Es fuehlte sich wie Fliegen an

    2006. Es war schnell, rasant und rasend. Schlimmer als eine Achterbahn. Es fuehlte sich wie Fliegen an. Aufstieg und Sturz. Wie katapultiert werden. Hoehen und Tiefen. Immer wieder Hoehen und Tiefen und nichts dazwischen. Ein Jahr voll von Adrenalin, seltsamen Erlebnissen, erfuehlten und unerfuehlten Wuenschen. Ein Jahr voll von Glueckseligkeit. Vielleicht richtigem, vielleicht gespieltem, vielleicht auch blindem Glueck. Es war ein Jahr der Verwunderung, der Erschuetterung, der Skepsis und schliesslich der Erleichterung. Ein Jahr, das mir Tueren vor der Nase zuschlug und mich – manchmal zu lange – nach neuen Tueren suchen liess. Ich habe wieder mit dem Tagebuchschreiben angefangen. Ein halbes Jahr spaeter – wieder aufgehoert. 18 sein ist einfach wundervoll, kommt jedoch ganz auf die Perspektive an. Es war das Heul-Lach-Jahr schlechthin. Den Weihnachtsmann, ja, den gibt es nicht.

  • >Sie sagen, dass ich spinne?<

    Fortsetzung von gestern. Ich (enerviert): Geht es Ihnen gut? Sie diskriminieren mich nur auf Grund dieser Jacke – spinnen Sie eigentlich? (Das ist eine oesterreichische Gegenfrage, die vielleicht etwas zu umgangssprachlich war, habe ich doch die Autoritaet in dieser Situation unterschaetzt; mir wurde erst spaeter klar, dass es sich um den Piloten handelte und nicht nur um eine weiteres [maennlliches) Personal, das mir schon vorher dieselbe seltsame dubiose Frage wiederholt gestellt hatte.] Pilot (enerviert): Sie sagen, dass ich spinne? Ich: Nein, ich frage Sie nur, ob Sie spinnen, weil sie mir solche absurden Fragen stellen. Pilot: Sie sind aggressiv und ein Sicherheitsrisiko und werden nun das Flugzeug verlassen. Pilot wendet sich von mir ab und zieht sich wieder in das Cockpit zurueck.

    Daraufhin musste ich das Flugzeug verlassen, was ich ohne Zoegern und ohne Aufhebens gemacht habe. Andere Passagiere um mich herum sind mir sofort zur Hilfe gekommen, haben gebuht und Stellung fuer mich bezogen, sich ueber das arrogante und ungerechtfertigte Verhalten empoert: Eine Person hat mir sofort Hilfe als Zeuge angeboten und mir die Telefonnummer gegeben. Eine zweite Person hat mir ebenfalls eine Kontaktemail gereicht. Die Stewardessen, die mir anfangs diese Frage gestellt haben, meinten, ich sei die Treppe nicht geradlinig aufgestiegen, sondern haette gewankelt – was defacto hiess, dass sie mich als betrunken und als problematisch wahrnahmen, ein Eindruck, der durch meine Sicherheitsleuchtjacke und meinen farbigen aussergewoehnlichen Schal faelschlicherweise unterstuetzt wurde.

    Ich stand jedoch wie immer in meinem Leben nicht unter dem Einfluss von Pharmazeutika, Alkohol oder anderer Drogen und fuehlte mich weder unwohl, noch sonst wie abnormal. Ich empfand die Fragen des Personals um mein Wohlbefinden, nur als rhetorische, aber paranoide und diskriminierende Frage. Meine Wortwahl (>Spinnen Sie eigentlich?<) wurde durch die diskriminierende und veraechtliche Behandlung provoziert und kann als persoenlich beleidigend empfunden werden, so wie ich die Behandlung als persoenlich demuetigend empfand, kann jedoch unter keinen Umstaenden als Sicherheitsriskio uminterpretiert werden, da ich mich koerperlich ruhig verhalten habe und meinen Tonfall nicht ueber die uebliche Staerke eines Dialoges anhob. Mehr als verbluefft war ich, als ich ohne Warnung, umgehend von der Maschine entfernt wurde. Ich erlebte den Piloten als extrem arrogant. Der ganze unglueckliche Wortwechsel dauerte nicht laenger als 30 Sekunden. Ich wurde gezwungen, ein neues teures Ticket zu kaufen und es selber zu zahlen. Darueber hinaus verlor ich einen Arbeitstag an der Akademie Stuttgart, wo ich eine Professur habe – ich befand mich auf dem Weg zur Arbeit. Damit Sie sich von meiner Erscheinung ein Bild machen koennen – dieses Foto wurde von einer German Wings-Repraesentantin beim unmittelbaren Kauf des neuen Tickets aufgenommen:

  • >Geht es Ihnen gut?<

    Am 17. Dezember 2006 wurde ich ungerechtfertigterweise, in diskriminierender Art aufgrund einer Leuchtjacke als Sicherheitsrisiko eingestuft und als Flugpassagier vom Flug Berlin (Schoenefeld) – Stuttgart (ungef. 11:20; German Wings) direkt von der Maschine nach dem Boarding wieder entfernt. Ich hatte problemlos ohne Uebergepaeck eingecheckt, alle Sicherheitskontrollen passiert, und dem Protokoll entsprechend das Flugzeug bestiegen. Ich trug eine Leuchtjacke, wie sie in England von Fahrradfahrern getragen werden und immer mehr auch in Deutschland von Strassenarbeitern und auch vom Flugbodenpersonal. Das Design jeder Jacke ist leicht unterschiedlich aber es gibt einen Aehnlichkeiteseffekt, der meistens nur mit einem Laecheln goutiert wird. Nicht aber so an Board vom German Wings. Sofort wurde ich vom weiblichen Flugpersonal mit der seltsamen, oefter gestellten Frage begruesst: Geht es Ihnen gut? Eine Frage, die ich mit Ja, mir geht es gut beantwortete. Mir wurde sofort klar, dass ich diese Frage meiner Sicherheitsleuchtjacke zu verdanken hatte, da auch ein Teil des Bodenpersonals mit einer aehnlichen Jacke ausgestattet ist. Doch warum? Leuchtjacken sind per se keine Uniformen. Meine Jacke hat kein Logo und keine irrefuehrenden Sicherheitsbezeichnungen. Sie koennte vielleicht vom selben Produzenten hergestellt worden sein, wie die des Flugboden- und Sicherheitspersonals.

    Wie auch immer: Aus rein praktischen Gruenden setze ich mich in die erste Reihe, direkt hinter die Cockpit-Tuer. Ich lasse mich nieder und lese die Zeitung. Die Jacke habe ich mittlerweile ausgezogen und am Nebensitz verstaut. Ich verhalte mich absolut normal, spreche mit niemandem, und lese eine deutsche Tageszeitung. Nach ungefaehr 10 Minuten tritt der Pilot an mich heran, den ich aber nicht als solchen erkenne. Der Wortwechsel, so wie ich mich an ihn erinnere. Pilot: Geht es Ihnen gut? Ich: Ja. Pilot: Geht es Ihnen wirklich gut? Ich: Ja, mir geht es gut. Was ist das fuer eine Frage? Pilot: Geht es Ihnen gut? Ich bin fuer das Flugzeug verantwortlich. Fortsetzung folgt morgen.

  • The difference fuehlt nicht jeder

    Englische Werbesprueche werden von deutschen Verbrauchern meist kaum oder voellig falsch verstanden – sagt zumindest die Koelner Agentur Endmark. Fuer eine repraesentative Studie hat sie ein Dutzend Werbeaussagen untersucht. Den Vodafone-Slogan Make the most of now zum Beispiel (zu Deutsch etwa: >Mach das Beste aus dem Augenblick<) konnte nur jeder Dritte der Befragten korrekt uebersetzen. Den Spruch des Urlaubsanbieters Centerparcs A State of Happiness (Ein Platz/Zustand des Gluecks) verstanden nur 13 Prozent richtig. Absolutes Schlusslicht der Studie ist der aktuelle Jaguar-Werbespruch Life by Gorgeous (in etwa: >Leben auf praechtig<). Diesen haetten nur noch acht Prozent der Befragten korrekt uebersetzen koennen. Manche der Probanden meinten, der Spruch hiesse: Leben in Georgien. Aehnlich skurrile Erklaerungsversuche haben die Tester auch beim Ford-Slogan Feel the difference erlebt, dem einzigen, den immerhin mehr als die Haelfte korrekt mit Spuer den Unterschied uebersetzen konnten. Manche der befragten Konsumenten glaubten allerdings, der Satz hiesse Fuehle das Differenzial oder auch Ziehe die Differenz.

  • Was soll Deutschland?

    In der Debatte um die deutsche Sprache entsteht haeufig der Eindruck, Deutschland erhebe den Alleinvertretungsanspruch darueber, den Zustand und die Zukunft des Deutschen zu definieren. Das Symposium >McDeutsch< hatte das Ziel den Gesichtskreis zu oeffnen. Ob Oesterreich oder Schweiz, weltweit verstreute deutschsprachige Minderheiten oder deutschsprachige Enklaven des Massentourismus, Deutsch als beliebteste Zweitsprache in Regionen wie China oder Afrika – die auf Deutschland reduzierte Debatte wurde im Rahmen des Symposiums McDeutsch geo-kulturell aufgefaechert. Allerdings wurde Deutschland als Bezugsrahmen keineswegs uebereilt verabschiedet – etwa befluegelt durch die Rede vom Ende des Nationalstaats im Zeitalter der Globalisierung. Der Nationalstaat ist als Modell allenfalls in einer Krise aber keineswegs dem sicheren Tod geweiht. In diesem Sinne wird Deutschland auch in Zukunft eine wichtige Rolle fuer die deutsche Sprache spielen. Aber welche? So wie der Nationalstaat dabei ist, sich neu zu definieren im Zuge der fortgeschrittenen Globalisierung, so wird auch sein Verhaeltnis zur Amtsprache redefiniert. Bei diesem Prozess spielt die Peripherie eine wichtige Rolle – das Zentrum (wollte man Deutschland als solches begreifen) muss bei seinem Umbauprozess mit ihr in einen regen Dialog treten. Das Symposium McDeutsch warf diesen Gedanken auf und fuehrte vor Augen, wie notwendig er ist – an einigen Reaktionen war ablesbar, dass ein Blick ueber den Tellerrand weder selbstverstaendlich noch erwuenscht ist. Manmachl ist es eben der Widerstand, der eine Sache notwendig erscheinen laesst.

  • Mehrsprachig in einsprachigen Gesellschaften

    Derzeit lebe ich in einem komfortablen Backsteinhaus in einer kleinen Stadt an der Atlantikkueste Floridas. Hier ist natuerlich das Internet die beste Quelle fuer deutschsprachiges Material. Zugang zu anderen Medien ist weitaus schwieriger. Es gibt kein Geschaeft, in dem man deutsche Zeitungen oder Buecher kaufen kann – sogar der so genannte internationale Flughafen hat keine auslaendischen Zeitungen vorraetig. Deutsche Filme sind hier nur aeusserst selten im Kino zu sehen, allerdings sind die groesseren, kommerzielleren Produktionen in der lokalen Videothek ausleihbar. Wenn man also nach einem Film mit Franka Potente sucht, wird man fuendig. Die Nachrichten der Deutschen Welle werden im oeffentlichen Lokalfernsehprogramm gleich nach denen der BBC gesendet. Jedoch ist die Sendung nicht auf Deutsch, da es hier ausreichend Zuschauer gibt, die zwar kein Deutsch sprechen, aber dennoch an deutschen Themen und Angelegenheiten interessiert sind. weiterlesen »

  • Rettet dem Kaeseigel!

    Wie wir alle wissen, steht die deutsche Sprache kurz vor ihrem Ende. Staendig wird sie von Neologismen und Anglizismen heimgesucht. Staendig muss sie mit dem Trend gehen. Unserer Sprache geht da langsam die Puste aus. Aber kann sie dem Tod noch mal von der schippe springen? Diverse Institutionen haben sich dem Nationalgut Deutsch schon angenommen. Sprachwaechter lauern hinter jeder Ecke und man hat schon Angst, Anglizismen in den Mund zu nehmen. Wenn es doch mal passiert: Am besten gleich mit Kernseife gruendlich ausschrubben. Verzweifelt wollen uns die Sprachwaechter zeigen: Die deutsche Sprache lebt! Sie zappelt noch! Und deswegen initiieren sie wohl eine Woerterwahl nach der anderen. Seit Jahren werden hierzulande Woerter und Unwoerter des Jahres gewaehlt. Neuerdings gibt es auch eine Hitliste der schoensten ausgewanderten Woerterwir berichteten. Ja inzwischen hat man in Deutschland mehr Woerter zur Wahl als PolitikerInnen! Ab sofort wird auch das >schoenste bedrohte Wort< gesucht. Bis zum 7. Februar haben die Deutschen Zeit, ihre Stimmen abzugeben. Aber anders als bei Bundestagswahlen, gibt es bei dieser Abstimmung auch Gewinner und Gewinnerinnen. Der oder die Glueckliche bekommt einen Kaeseigel. Ich persoenlich haette einen Schokoriegel besser gefunden. Aber egal. An dieser Stelle wage ich schon mal eine Prognose fuer die schoensten bedrohten Woerter: Verstand, Negerkuss und Igelfondue.

  • Was koennen wir von Afrika und Amerika lernen?

    Das fragte das McDeutsch-Symposium am vergangenen Freitag. Ich moechte an dieser Stelle auf diese Frage zurueckkommen. Denn selbst wenn sie nicht zentraler Gegenstand der Diskussion gewesen ist, so hat die Veranstaltung dennoch interessante Antworten darauf geliefert. weiterlesen »

  • Germanisierung der >No-go-area<

    Woerter anderer Sprachen in die eigene miteinfliessen zu lassen gilt bekanntlich als sprach- oder gar kulturgewandt. Hier ein faux-pas, dort ein deja-vu und mittendrin noch canto und in multa nocte. Dass es neben den gelungenen Kapriolen, die aus bewusstem Sprachempfinden Eingang in die eigene Rede halten, auch ein Uebermass an zweifelhaften Wendungen gibt, darauf macht ein Projekt der Stiftung Deutsche Sprache aufmerksam: Die >Aktion lebendiges Deutsch< rueckt den Import des Englischen in das Blickfeld und stellt jeden Monat zwei Anglizismen aus unserem Sprachgebrauch zur Diskussion, die durch deutschsprachige Ausdruecke ersetzt werden sollen. Aus der No-go-area wird also die Meidezone, aus dem Blackout der Aussetzer. Beispiele wie Hingeher fuer Event oder den Laptop durch den altmodisch anmutenden Klapprechner zu ersetzen, machen jedoch schnell klar, dass man manche Dinge am besten einfach so belaesst, wie sie sind. Historisch hat die Idee der Germanisierung von Fremdwoertern eine lange Tradition. Schon im 18. Jahrhundert hat Joachim Heinrich Campe etwa 11.500 Eindeutschungen vorgenommen, von denen beispielsweise fortschrittlich fuer progressiv, altertuemlich fuer antik und Stelldichein fuer Rendezvous in unseren Sprachgebrauch eingegangen sind. Fuer seine Entsprechungen wie Zwangsglaeubiger, Heiltuemelei und Menschenschlachter anstelle von Katholik, Reliquie und Soldat konnte man sich allerdings wenig begeistern – in Punkto Uebersetzung ist ihm die Aktion lebendiges Deutsch wohl einen kleinen Schritt voraus. Hier hat der Prozess den Anspruch, oeffentlich, ja quasi-demokratisch zu sein.

  • Rentner, Kampfhunde und Foucault

    Am Donnerstag war ich in Friedrichshain, dem Stadtteil mit den grossen Hunden und dem ersten seniorenfreundlichen Supermarkt. Kampfhunde haben wir bei mir in Neukoelln ebenfalls und wachsame aeltere Mitbuerger sind wichtig. Vorgestern wurde mein Vertrauen in die Mechanismen sozialer Kontrolle jedoch erschuettert. Ich war mit einer Bekannten verabredet, die im hippen, studentischen Teil Friedrichshains wohnt. Ich will dir dein Fahrrad zurueckgeben, ich gehe zurueck nach Schweden, hatte sie am Telefon angekuendigt. Das Rad war in Topform, es sah besser aus, als ich es ihr ueberlassen hatte. Keine zehn Minuten nach der Uebergabe passierte das Unglueck. Vor einem Laden versenkte ich den Schluessel des abgeschlossenen Fahrrads in einem Luftschacht. Was tun? Ein fast neues, blaues, abgeschlossenes Herrenrad durch halb Berlin schleifen? Ein Rad, das garantiert nicht so aussah, als gehoerte es einer Frau unter Einssiebzig? Sie werden mich festsetzen, dachte ich. Mindestens drei Rentner werden sich auf mich stuerzen und nachfragen. Ich hatte keine andere Wahl. Es war bereits dunkel und einen Ersatzschluessel hatte ich nicht dabei. Ich beruhigte mich: Betrachte es einfach als Selbstversuch, sagte ich mir und teste einfach mal die Mechanismen sozialer Kontrolle als vermeintliche Fahrraddiebin. Die Hypothese, dass man mir bereits in Friedrichshain Schwierigkeiten machen wuerde, bestaetigte sich nicht. Niemand interessierte sich fuer mich. Spaeter in der U-Bahn in Kreuzberg, wurden ein paar Kids auf mich aufmerksam, aber die fanden das Rad wohl einfach nur uncool. Am Bahnhof Schoenleinstrasse stiegen Kontrolleure ein. Fuer die Frau ohne Fahrschein neben mir ein Problem, fuer mich nicht. In Neukoelln ist die Welt noch in Ordnung, dachte ich mir, da werde ich garantiert in eine Polizeistreife hineinlaufen. Nichts. Der Abend endete dann nicht auf der Polizeiwache, sondern auf dem Sofa mit Foucaults Abhandlung >Ueberwachen und Strafen< ueber die Geburt des Gefaengnisses. Die musste ich beim ersten Lesen voellig falsch verstanden haben.

  • Zwischen den Assoziationen

    Mit fuenzehn hat man ja die verruecktesten Ideen. Bei mir war es das Assoziationsspiel, das mir damals einfiel, als wir an einem Freitagabend mal wieder im Pub Wild Turkey rumsassen und nichts zu tun hatten. Wie immer war nichts los in Pritzwalk. Das Spiel funktioniert ganz einfach. Ich sage ein Wort und mein Nachbar muss das erste Wort sagen, dass ihm dazu einfaellt. Ohne zu ueberlegen! Dann ist der naechste dran. Wer zu lange ueberlegt, muss Einen trinken. Das hoert sich bloed an, macht aber Spass. Dieselbe Idee verfolgt der Assoziations-Blaster im Internet. Hier werden nicht nur einzelne Woerter in eine endlose Assoziationskette gesetzt, sondern ganze Texte. Jeder User kann seine Assoziationen zu bestimmten Woertern in Form eines Textes eingeben. Dadurch entsteht ein Text-Netzwerk in dem sich alle eingetragenen Texte mit nicht-linearer Echtzeit-Verknuepfung verbinden. Das hoert sich verworren an, ist im Grunde aber ganz simpel. Auf der Startseite steht zum Beispiel das Wort Mentalkastrat. Ich klicke es an und erhalte einen Text, in dem das Wort vorkommt. Dann kann ich auch meine eigene Assoziation eintragen. Bei mir war es das Wort und. Schwupps sehe ich die Assoziationen von anderen Leuten zum Wort und. Tomtomcity schreibt zu und zum Beispiel: Die Banalisierung des Boesen. Dann kann ich wiederum Banalisierung anklicken usw. usf. Aber wofuer ist der Assoziations-Blaster eigentlich gut? Man kann ihn zum Beispiel als ein Hilfsmittel fuer das Brainstorming verwenden. Oder man benutzt ihn einfach als ein ein Werkzeug zum Buecherschreiben, oder um diese automatisch geschrieben zu bekommen. Ausserdem erhaelt man Einblick in die komplexen Gedankenwelten seiner Mitmenschen. Und zu guter Letzt stellt der Blaster eine Verbindung zwischen allen Arten von Ansichten, Sprachen, Kulturen und Menschen her, die die ultimative, post-moderne Ambivalenz erzeugt – oder eine Art Zwischen-Fakten-Wissen.