“Solidarität” war für mich zunächst ein Wort, das in einer ähnlichen oder derselben Schublade lag, wie “geldwerter Steuervorteil” oder “Sozialversicherungsausweis”. Das Solidarität aber viel mehr bedeuten kann, als ein in Großbuchstaben auf dem Schild eines Demonstranten geschriebenes Wort, verstand ich erst jetzt. Eine persönliche Begriffsgeschichte.
“Solidarität” ist das Wort, das zum Standardrepertoire des Mannes gehört, der Mitte 40 bis Anfang 60 ist, einen längeren Schnauzbart trägt und mit gemustertem Pollunder, vorzugsweise am 1. Mai, in ein Megaphon brüllt. Er brüllt es Menschen entgegen, die mit roten Plakaten pflichtbewusst vor ihm stehen und auf die Kunstpausen in seiner Rede lauschen, damit sie wissen, wann sie klatschen und in ihre roten Trillerpfeifen pusten müssen. Ansonsten warten sie darauf, dass sie nach getaner “Solidarität” zur Sportschau und zum Grillen wieder zu Hause sind.
“Solidarität” war ein Wort, das der Gewerkschaft gehörte. Auftritt Synapse-Geschichtsunterricht: Das war die Organisation, die dem kalten Kapitalismus etwas entgegenzusetzen hatte; ihr haben wir zu verdanken, dass wir keine Kinderarbeit mehr haben und niemand 16 Stunden täglich unter Tage sein muss. Cool, danke Gewerkschaft, das klingt echt fair, nett von dir.
Was hat das mit mir zu tun?
Aber: Unter Tage? Kinderarbeit? Die Antwort auf diese Assoziation lautete: Unter Tage gibt’s vielleicht noch im Ruhrpott, bei uns sind alle Braunkohlegruben längst Baggerseen geworden, Kinderarbeit, das ist ja absurd, das war die Zeit, in der es Bettwanzen gab. Also, was hat das mit mir und heute zu tun? Ja, das klingt zu Recht undankbar. Aber dann hätte ich auch täglich der französischen Revolution danken müssen und allen Feministinnen dieser Welt, und den Eltern des Grundgesetzes usw.
Ja, ich bin dankbar, aber heute war heute, und jetzt steht da der Pollundermann und brüllt „Solidarität“ und auch wenn er brüllt, bin ich mir nicht sicher, ob er selbst weiß, was er darunter versteht. Vermutlich versteht er darunter, dass wenn die Gewerkschaft 5 % mehr Lohn fordert keiner sagt, wir brauchen nur 3 %.
Ich war damals eine Teenagerin, die zur Schule ging und der erklärt wurde, dass die Aussichten auf überhaupt einen Arbeitsplatz nicht gut sind. Was sollte ich da mit einer „Solidarität“ anfangen, die nach sozialspießigem Grillwürstchen und 5% Lohnzuwachsforderungen schmeckte?
Ich bin Anti!
Ein anderes Bild vor meinen Augen: Ich bin immer noch Teenagerin und Teil der Anti-Atom- und Anti-Gentechbewegung. “Solidarität” gehört zu den guten Wörtern, aber eigentlich sind sie von den “Sozen” entlehnt und man sagt sie halt. Und Solidarität ist was für Leute die fragen, ob es vielleicht möglich wäre, gegen etwas zu sein. Die haben ja eh schon verloren.
Nebenbei bemerkt, das gesellschaftliche Credo meiner Teenagerzeit war geprägt von: Jeder ist seines eigenes Glückes Schmied; Individualität ist das größte erreichbare Ziel, Liberalismus ist das Erfolgsgeheimnis der Wirtschaft und “Soziales” kann sich niemand mehr leisten. Und der Kanzler hieß Kohl und zwar schon immer. Und ich befürchte, ich bin nicht die einzige deren Assoziationskette bis hierhin so verlaufen ist.
Von wegen alles nur Parteienpropaganda
Aber nun würde ich diesen Artikel ja nicht schreiben, wenn jetzt nicht doch noch der Wendepunkt kommen würde: Ich bin auf einmal Menschen begegnet, die frei von jeglicher Negativkonnotation waren, die ich sonst mit den SolidaritätswortbenutzerInnen verbunden habe. Sie standen mitnichten im Verdacht irgendeine Verbands- oder Parteienpropaganda abzuspulen. Sie gehörten auch nicht zu den Gruppen, mit denen man aus irgendeinem Grund Mitlied haben sollte und die das in Form von Solidarität (also für sich selbst) auch einforderten. Sie waren auch nicht vom System oder von der Gesellschaft im Allgemeinen frustriert.
Es waren kreative Menschen, die das Leben zu genießen schienen, die abenteuerlustig waren, die Selbstständigkeit nicht als Himmelfahrtskommando ansahen, sondern als Möglichkeit sich zu entfalten, ohne vor Existenzangst zu erstarren. Menschen, die nicht die biedermaiersche Moral ihrer Großeltern wieder aufleben ließen, sondern einen Weg zwischen der Vorstellung der 68er und einem stilbewussten Bildungsbürgertum gefunden haben.
Pluspunkt auf der Charakterliste
Menschen, die nicht vom Wiederaufbau der Fachwerkhäuschen träumten, sondern die die Moderne bejahten und daran glaubten sie mitgestalten zu können. Und als ob das alles nicht schon überraschend und überraschend ermutigend genug gewesen wäre, waren diese Menschen solidarisch und dabei nicht unsexy! Und sie waren solidarisch, ohne das Wort je explizit zu benutzen. Sie waren es einfach (sind es noch!) und mit eben jener gelebten Selbstverständlichkeit, die ich beim Pollundermann nie entdecken konnte.
Und auf einmal stellte ich fest, Solidarität ist gar keine Schwäche, Solidarität ist eine Stärke, ein dicker, attraktiver Pluspunkt auf der Charakterliste. Ich weiß nicht, wie diese Menschen es geschafft haben (zugegeben, es waren nicht so viele, vielleicht eineinhalb bis drei), so zu werden, aber sie haben einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Denn inzwischen denke ich: Es ist die Solidarität und nicht ihre Ablehnung, die etwas mit Mut, Abenteuerlust, Selbstverwirklichung und Individualität zu tun hat.
1 Kommentar zu