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Klingt perfekt Bäääh, das will ich nicht

Friede, Freude, Totentänze

Mein überschaubarer Heimatort war, aus welchen Gründen auch immer, Standort des größten Friedhofs der Schweiz. Ich weiß es nicht genau, aber ich bin ziemlich sicher, dass die Zahl der Toten auf dem Gemeindegebiet die der Lebenden bei weitem überstieg. Auf jeden Fall nahm der Friedhof eine größere Fläche ein als die gesamte Innenstadt – von uns nur „das Dorf“ genannt. Trotz dieser räumlichen Präsenz hatte der Ort für mich als Kind nie eine Rolle gespielt. Eine Grünfläche mit Grabsteinen, umgeben von einer hohen Mauer – der Friedhof eben… Erst mit Eintritt in die Pubertät begann er für mich eine Faszination zu entwickeln. Das hatte auch mit den drei oder vier „Grufties“ zu tun, die auf meine Schule gingen. Sie gehörten mit ihren langen schwarzen Ledermänteln, schwarzem Kajal, weiß gepuderten Gesichtern und den Schwaden von Patchouli, die auch noch in den Fluren hingen, wenn ihre Verursacher längst in einem der Klassenräume verschwunden waren, zum Exotischsten, was mir in meinem kurzen Leben bisher begegnet war. Ob es sich bei den Gerüchten, die über sie die Runde machten, um Mobbing, Selbstinszenierung oder eine Mischung aus beidem handelte, ist aus heutiger Sicht schwer zu sagen: Von satanistischen Ritualen auf dem Friedhof wurde gemunkelt, von schwarzen Messen mit Blutopfern, Bibelverbrennungen, Grabschändungen und „irgendwelchem Sex-Zeug“ und unsere Phantasie von heimlich geguckten Filmen wie „Der Exorzist“ oder „Rosemary´s Baby“ und MTV-Clips beflügelt.

Ich weiß nicht mehr, ob dies der Grund für unsere selbstauferlegte Mutprobe war. Jedenfalls beschlossen meine beste Freundin Svenja und ich eines Abends in den Sommerferien, uns nachts auf dem Friedhof einschließen zu lassen. Von dem, was dann geschehen sollte, hatten wir keinen Plan. Unseren Eltern hatten wir – ganz originell – erzählt, wir würden bei der jeweils anderen übernachten, und im Gepäck hatten wir nur einen Gedichtband von Celan und einen von Rilke – ganz schön harter Stoff für zwei Vierzehnjährige – und, nicht minder hart, eine Flasche Pflümli, die wir aus der gut sortierten Hausbar meiner Eltern entwendet hatten. Unsere Recherchen hatten ergeben, dass die großen Tore des Friedhofs bei Sonnenuntergang verschlossen wurden und so versteckten wir uns in der Dämmerung im hintersten Winkel des Geländes hinter ein paar Fliederbüschen. Es war immer noch sehr warm an diesem Abend im Hochsommer und die Gedichte, die wir uns vorlasen, um uns die Zeit zu verkürzen, trockneten den Mund zusätzlich aus. So fingen wir schon bald an, unsere Lippen und Kehlen mit der einzigen Flüssigkeit, die uns zur Verfügung stand zu befeuchten. Ich kann mich noch genau an Svenjas Stimme erinnern, die sie einige Oktaven tiefer machte, als sie mir „Die Todesfuge“ vorlas. Wir verstanden zwar kein Wort davon, aber es war alles sehr bedeutend und je dunkler es um uns herum wurde, auch immer grusliger.

Svenjas Eltern kamen aus Finnland. Und auch wenn ich damit ein Klischee bediene: Sie war einiges trinkfester als ich. Nur die Gefahr, vor meiner besten Freundin das Gesicht zu verlieren, ließ mich meine Abscheu vor dem scharfen Getränk überwinden und immer wieder ein kleines Schlückchen aus der Flasche trinken, denn dass diese als Durstlöscher nichts taugte, war mir ziemlich schnell klar. Inzwischen war es dunkel und wir wussten nicht so recht, wie es weitergehen sollte. Wir fingen an, uns Gruselgeschichten von Anhalterinnen mit haarigen Händen und mörderischen Puppen zu erzählen. Seltsamerweise wurde Svenja im Gegensatz zu mir nicht immer ängstlicher, sondern mit jedem Schluck aus der Flasche aufgedrehter. Irgendwann fing sie an, „It´s my Life“ von Dr. Alban zu singen, wankte auf eine große Buche zu und ließ sich nicht davon abbringen, auf den Baum zu klettern. Weit kam sie allerdings nicht, denn schon gute zwei Meter über dem Boden schlug ihre Stimmung schlagartig um. Zitternd und heulend umklammerte sie den Baum. Es dauerte gefühlte Stunden, sie durch gutes Zureden und hingestreckte Hände wieder auf die Erde zu bekommen. Und dann ging alles sehr schnell. An den Baum gelehnt im Gras sitzend und immer noch heulend trank sie die Flasche, die sie schon davor mehr oder weniger alleine zur Hälfte geleert hatte, mit ein paar großen Schlucken aus, und ich konnte nur zusehen, wie meine Freundin erst ganz still wurde, sich dann im Gras kniend übergab und schließlich zusammengekrümmt und nicht mehr ansprechbar liegen blieb.

An den Weg zum Haus, in dem Svenja mit ihrer Mutter wohnte, kann ich mich nicht mehr erinnern. Dafür umso besser an meine panische Angst und die schlagartige Nüchternheit. Auch wie ich es geschafft hatte, den Friedhof zu verlassen und vor allem, wie wir es schafften, die halb bewusstlose Svenja auf die andere Seite der Mauer zu befördern, weiß ich nicht mehr. Meine Erinnerung setzt erst wieder ein, als meine Freundin vollständig bekleidet in der mütterlichen Badewanne kauert und mit eiskaltem Wasser ins Leben zurückgebraust wird. Für Svenja endete der Abend im Krankenhaus, wo ihr der Magen ausgepumpt wurde. Für mich mit einem peinlichen Geständnis zu Hause und ganz bestimmt mehreren Wochen Hausarrest.

Ich erzähle diesen Schwank aus meiner Jugend deshalb, weil er mir immer mal wieder in den Sinn kommt, wenn ich über einen Friedhof streife. Denn meiner traumatischen ersten Erfahrung zum Trotz habe ich eine große Friedhofsliebe entwickelt. Den Friedhof meines Heimatortes habe ich zwar nie wieder betreten, aber dafür kenne ich so ziemlich jeden Friedhof Berlins. Und wenn ich mich an einem neuen Ort befinde – egal ob aus beruflichen oder privaten Gründen, steuere ich neben dem höchsten zu besteigenden Kirchturm jedes Mal den Friedhof an. Ich drehe dort meine Runden während ich Text lerne oder Kraft und Stille zwischen zwei Proben tanke. Dabei trage ich zwar bestimmt hin und wieder Schwarz, aber weder Patchouli noch ein Pentagramm-Tattoo. Den Begriff „morbider Charme“ habe ich noch nie verstanden – egal, ob es sich um Häuser, ganze Städte oder um Gesichter handelt, denen man ihr Alter ansieht – was mich daran fasziniert, mich anzieht, was ich daran schön finde, hat nichts mit einer Sehnsucht nach dem Tod und ganz viel mit der Liebe zum Leben zu tun. So ist das auch mit Friedhöfen: Gerade die Allgegenwärtigkeit des Todes ist es, die ich als wohltuend und inspirierend empfinde. So sehr es eine Binse ist, dass der Tod in unserer Gesellschaft keinen Platz mehr hat, so sehr schreitet diese Entwicklung in meinen Augen voran. Und diese Verdrängung ist alles andere als lebensbejahend. Das hat sich durch den Umgang mit Corona besonders deutlich gezeigt: Auch in diesem Bereich wäre die Pandemie eine hervorragende Lehrmeisterin gewesen, die jedoch leider weitestgehend unerhört blieb. Sowohl die Leugnung und Verharmlosung als auch die an Hysterie grenzende Angst vor dem Virus sind für mich nur durch eine nicht stattfindende Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit zu erklären. Und auch einen Donald Trump oder Attila Hildmann, kann ich mir ausgestattet mit einem Bewusstsein über ihre Vergänglichkeit schlecht vorstellen. Paradoxerweise führt dieses nämlich (zumindest bei mir) nicht zur Einstellung „Nach mir die Sintflut“, sondern im Gegenteil zu einer Wertschätzung nicht nur dem eigenen, sondern allem Leben gegenüber. Es macht freundlicher, gelassener und gleichzeitig fokussiert und motiviert. Der Tod ist nicht das Ziel, aber das einzige, was in unserem Leben wirklich sicher ist und damit eine gute Orientierungshilfe. Doch auch wenn ich – zumindest phasenweise – ziemlich reflektiert mit diesem Thema umgehe, weiß ich nicht, ob es mir in diesem kurzen Leben gelingt, mich damit zu versöhnen. Der eigene Tod ist, wenn man nicht erleuchtet, sondern eben eine Normalsterbliche ist, die höchste Form der Ego-Kränkung und der Verlust eines geliebten Menschen ein Schmerz, der mit keinem anderen zu vergleichen ist. Aber ich glaube, es geht gar nicht so sehr darum, in dieser Disziplin die Meisterschaft zu erlangen. Es geht darum, es immer wieder zu versuchen, zu versuchen, dieser Zumutung nicht dauernd, aber immer mal wieder mit Mut gegenüberzutreten, bis man merkt, dass der Tod - als eingeladener Gast - die Party des Lebens durchaus bereichern kann.

Doch abgesehen von diesen spirituell-philosophischen Aspekten gibt es auch ganz profane Gründe, Friedhöfe zu lieben: In einer Großstadt sind sie schlicht oft die einzigen nicht völlig überlaufenen, zugemüllten und tot-gestädteplanten grünen Oasen. Wunderschöne Alleen, so viele unterschiedliche Bäume, Büsche, Blumen… Füchse, Rehe, Eichhörnchen und wenn überhaupt Menschen, dann nur friedliche. Ja, auch in Sachen Menschlichkeit ist der Friedhof ein beinahe paradiesischer Ort. Ich weiß nicht, ob es Gesetze gibt, die festlegen, was auf einem Grabstein stehen darf und was nicht. Auf jeden Fall habe ich auf all den vielen Friedhöfen noch kein einziges Mal: „Na endlich!“, „Wurde ja auch Zeit!“ oder „Du hast uns von langem Leiden erlöst“ gelesen. Stattdessen steht da: „Du bleibst immer in unseren Herzen“ „In Liebe und Dankbarkeit“ oder „Geliebt und unvergessen“.

- Geliebt und nicht vergessen werden… Wahrscheinlich kann so ziemlich alles, was wir zu Lebzeiten tun auf diese zwei Wünsche zurückgeführt werden: Wir ziehen dafür seltsame Klamotten an, machen Karrieren, lassen uns Fett aus dem Bauch saugen und in die Lippen spritzen, kriegen Kinder oder schreiben Bücher… Und immer ist diese Liebe noch nicht genug, die Angst, in Vergessenheit zu geraten zu groß. Tja, und dann steht es auf einem Stein und man hat nichts mehr davon… Es kann natürlich sein, dass die zu den betreffenden Steinen gehörenden Menschen dies auch zu Lebzeiten regelmäßig gehört haben, aber das wage ich zu bezweifeln. Fast könnte man denken: Nur ein toter Mitmensch ist ein guter Mitmensch. Die „Body-Fields“ sind in gewisser Weise der krasse Gegenentwurf zu Facebook.

Doch kein Paradies ohne Makel: Literarisch gesehen sind Friedhöfe eine eher bescheidene Angelegenheit: „Du warst so gut, du starbst zu früh, wer dich gekannt vergisst dich nie.“ - schwer nachzuvollziehen, wie jemand Geld ausgeben kann, um diese oder ähnliche Worte in Stein meisseln zu lassen. Und auch der physische Tod muss uns nicht unbedingt vom Diktat des Daueroptimismus’ und der Dankbarkeit befreien, wie die Zeilen: „Schöne Stunden: Weine nicht, dass sie vergangen, lächle, dass sie gewesen!“ beweisen. „Familie Stapel, vereint“ hingegen mag inhaltlich richtig sein, könnte aber zu recht unangenehmen bildlichen Assoziationen führen. Vor allem Inschriften neueren Datums legen durch ihre eher preiswert wirkende Optik sowie Rechtschreibfehler den Gedanken nahe: „Wenn du deinen Grabstein bei Wish bestellst…“.

Und dann ist da noch der Gräber-Gap: Auf Friedhöfen ist bestens dokumentiert, welche Rolle Frauen in den letzten 200 Jahren in unserer Gesellschaft gespielt haben. Meine Feldforschung hat eindeutig ergeben, dass es mehr und größere Steine für Männer als für Frauen gibt! Wenn es sich um Steine für Ehepaare handelt, steht die Frau immer an zweiter Stelle – ok, das kann auch daran liegen, dass sie ihre Männer meist überlebt haben, aber trotzdem… Was mich jedoch wirklich irritiert und ein (weiteres) schlagkräftiges Argument für Kinderfreiheit ist, sind Inschriften wie: „Thomas Kunz & MUTTER“, „Dr. Heinz Meier und Mutti“, „Hier ruht ein liebend Mutterherz“ - wohlgemerkt nicht aus dem 19. Jahrhundert, sondern auch neueren Datums! Und ich naives Ding dachte, nur Filmproduktionen hätten für Frauen jenseits der 30 keine andere Rolle als „Die Mutter“ vorgesehen…

Aber wie auch immer: Ich bin unglaublich dankbar für diese Orte und hoffe, dass es sie noch eine Weile geben wird – Die lebenden Toten mit ihren „exklusiven Eigentumswohnungen“ haben nämlich schon begonnen, heftig an den Rändern der Friedhöfe rumzuknabbern. Ich selbst möchte trotzdem nie auf einem liegen – dann würde ich ja zum Blumenbeet, auf dem jemand Unkraut jäten müsste – aber solange ich noch atme, atme ich weiterhin gerne und regelmäßig Friedhofsluft.

Beautiful Freak

Der Ein-Meter-Neunzig-Mann, der Minuten zuvor auf Geheiss der Meisterin vor den brennenden Teelichtern auf die Knie gesunken ist, bricht jetzt in Tränen aus. Das Mozart-Requiem, das aus dem hastig in die Mitte des Stuhlkreises gezerrten Ghettoblasters dröhnt, hat ihm den Rest gegeben, den Damm zum Brechen gebracht. Noch vor einer halben Stunde war er einfach nur ein Mann Ende fünfzig, der keine Erklärung dafür fand, warum es ihm schwer fällt, Emotionen zu zeigen. Ein paar suggestive Fragen und angezündete Teelichter später weiß er jetzt: Sein Vater war ein Nazi und zwar ein richtig hohes Tier. Er trägt die Verantwortung für den Tod von über zehntausend jüdischen Kindern, da er einen geheimen Fluchtweg verraten hatte. „Meines Wissens war mein Vater ein einfacher Dachdeckermeister aus Kassel und hatte mit der NSDAP nichts zu tun.“ – Tja, so leicht kann man sich täuschen, mein Lieber! Jetzt hat er zwar einen Nazi-Verbrecher-Vater, aber dafür auch Emotionen, die ganz ungehindert aus ihm herausschiessen, während er zu Lacrimosa stellvertretend für seinen Vater die Seelen der toten Kinder um Vergebung bittet. Ich bin zwar schon spätestens beim Ghettoblaster ausgestiegen, aber als wir jetzt von der Guruistin dazu animiert werden, den Chor der ermordeten Kinder zu mimen und uns vor dem wimmernden Mann aufbauen, ist endgültig Schluß!

Bis heute habe ich mir nicht ganz verziehen, dass ich nicht sitzen geblieben oder einfach gegangen bin, sondern mich mit den gut fünfzehn anderen Teilnehmern wie eine schlechte Laientheatergruppe um den armen Mann gruppiert habe. Ich stand da zwar ohne das geringste darstellerische Engagement, aber ich habe mitgemacht. Und das, obwohl ich wusste, dass hier nicht nur die Geschichte und das unsägliche Leid von Menschen missbraucht wurde, sondern auch in die Biographie des knienden Mannes eine frei erfundene Geschichte implantiert wurde, die ihm zwar erst einmal eine Erklärung liefern, ihn aber für den Rest seines Lebens nicht mehr loslassen und noch viele, viele Familienaufstellungen buchen lassen würde. – Erst in der Mittagspause stahl ich mich davon. – Eine halbe Monatsmiete ärmer, aber einen Intensivlehrgang zum Thema Gruppendynamik und die Erkenntnis, dass ich so verzweifelt dann doch nicht war, reicher.Längerfristig betrachtet war es vielleicht sogar eine gute Investition. Denn diese Familienaufstellung blieb der letzte Versuch, durch fremde Hilfe in diesem Leben noch „normal“ zu werden. Besser gesagt, zuerst einmal die Ursache für mein nicht „normal“ sein zu eruieren, denn bevor man den Tumor herausschneiden kann, muss man ja wissen, wo er sitzt. Das versuchte ich seit meiner frühsten Jugend herauszufinden: Durch Gesprächstherapien, Psychoanalyse, Tarotkarten, Traumatherapie und Traumanalyse, schamanische Rituale, Kinesiologie, Astrologie, Meditation und zuletzt eben auch noch durch diese unwürdige Veranstaltung. Durch diese habe ich zumindest erfahren, dass es viele Menschen gibt, die noch wesentlich gestörter sind als ich. Und auch, dass ich manchmal eben genau so funktioniere, aufstehe und mitmache, wie alle anderen auch. Aber an meinem Gefühl des „anders Seins“, des „nicht dazu Gehörens“ änderte das nichts. Und auch an meinem Leiden darunter nicht.

Wer hätte geahnt, dass die große Erlösung so simpel wäre: Eine einfache kleine Pandemie hat gerichtet, woran ich ein halbes Leben gescheitert bin. Und zwar – so größenwahnsinnig, diese Möglichkeit auch nur zu denken, war ich selbst in meinen aller megalomanischsten Phasen nicht – frei nach dem Motto: „Wenn der Berg nicht zum Propheten kommt, muß der Prophet zum Berg.“ Die geniale Lösung für mein Problem bestand nicht darin, dass ich so wurde wie alle, sondern dass alle so wurden wie ich.

Es begann mit unspektakulären Dingen: Brotbacken und ausgedehnte Spaziergänge. – Zugegeben, Gewohnheiten, die an Exotik leicht zu überbieten sind – ich wäre auch nie darauf gekommen, unser täglich Brot oder Spaziergänge in sozialen Netzwerken zu posten. Und plötzlich war beides Volkssport geworden. Auf meine anfängliche Verwunderung folgte bald schon Unbehagen: Zwanghafte Toilettenbesuche vor meinen Spaziergängen, ständig kurz vor der Dehydrierung… Ich bin selten weniger als zwei Stunden unterwegs und da muss man eben schon mal. Früher kein Problem: Außer vielleicht an den Wochenenden waren so wenige Menschen in „meinen“ Wäldern und Parks unterwegs, dass ich mich immer irgendwo hinter einen Busch hocken konnte – heute undenkbar. Aber auch sonst: Menschen stören mich nicht nur beim Urinieren, sondern auch beim Denken und viele Menschen verhindern beides gar. Dazu wurde der Spaziergang plötzlich wissenschaftlich ausgeschlachtet: Sportärzte, Psychologen und Promenadologen (sic!) erklärten uns, wie wichtig das Spazierengehen für Volkskörper und -seele sei. Meine diebische Freude über die stibitzten Stunden, über mein komplett unproduktives und absichtsloses Tun, mein stiller Widerstand gegen Neoliberalismus und Selbstoptimierung hatten sich in ihr Gegenteil verkehrt: Von nun an gehörten Spaziergänge auf die To-Do-Liste jedes anständigen, nützlichen Mitglieds der Gesellschaft – Um die eigene Arbeitskraft zu erhalten und um nicht womöglich depressiv zu werden und den Spaß am Konsumieren zu verlieren. 

Meine erste Trotzreaktion bestand darin, mich hinter geschlossenen Vorhängen einzuigeln, viele Zigaretten zu rauchen und mein politisches Engagement in die digitale Welt zu verlagern, indem ich auf Facebook Werbeanzeigen wegklickte: „Alle Werbeanzeigen von Nestlé Deutschland verbergen“ – bämm, in your face, Kapitalismus! Das könnte man ein Leben lang machen, denn die abgeschlagenen Drachenköpfe wachsen zuverlässig nach. Gut, dass mein Appetit durch das tagelange vor dem Bildschirm hocken praktisch nicht mehr vorhanden war, denn das Brotbacken hatte ich ganz eingestellt. Lange konnte ich meinen Bewegungsdrang allerdings nicht unterdrücken. Zähneknirschend fing ich an, wieder spazieren zu gehen. Von nun an jedoch nicht mehr im Grünen, sondern bevorzugt entlang den hässlichsten und meistbefahrenen Straßen Berlins. Urinieren ging da zwar auch nicht, aber immerhin blieb ich so weitestgehend von ambitionierten Neu-Spaziergängern verschont.

Aber es ist ja nicht so, dass mein Gefühl der Andersartigkeit auf Spaziergängen und Brotbacken fußte. Es ging um viel Grundsätzlicheres: Es war schon immer schwer für mich, zu beurteilen, ob ich durch das Leben, das ich führe, so geworden bin, oder ob ich mir ein solches Leben ausgesucht habe, weil ich eben bin wie ich bin. Wahrscheinlich Letzteres, denn das Gefühl, nicht dazu zu gehören – egal wozu – begleitet mich schon spätestens seit dem Kindergarten. Das Gefühl blieb stets diffus, war nicht konkret festzumachen. Meine Wertung jedoch tendenziell negativ: Ich war eben irgendwie nicht so schön, nicht so selbstbewusst, nicht so stabil, nicht so unbeschwert, nicht so erfolgreich wie die anderen. Ich dachte, redete, bewegte und benahm mich seltsam. Ich nahm Dinge wahr und mir zu Herzen, die andere nicht bemerkten. 

Ich war froh, dass Mix-Tapes aus der Mode gekommen waren – keine der vielen Kassetten meiner Verehrer aus den 90ern kam ohne „Beautiful Freak“ von den Eels aus. – Gut gemeint, vielleicht sogar als ultimativer Liebesbeweis, aber was hätte ich darum gegeben, stattdessen den wesentlich uncooleren Hit „Barbie Girl“ gewidmet zu bekommen. „Life in plastic, it’s fantastic“ – fantastischer auf jeden Fall, als ich zu sein. Erschwerend kam hinzu, dass mein „anders Sein“ ja keinerlei weitere Auszeichnung enthielt, als eben „irgendwie anders“. Wäre ich eine geniale Autistin gewesen, die das U-Bahnnetz von New York detailgetreu, in Blindenschrift aufmalen könnte oder die Frau mit den längsten Beinen der Welt… Aber so war ich eben nur sowas wie eine Cola mit Kirschgeschmack – nicht besonders lecker, aber mal was anderes… 

Im letzten Jahr jedoch stellte ich fest, dass mir meine Andersartigkeit durchaus auch manchmal ein Gefühl der Überlegenheit geschenkt hatte. In diesem Punkt unterscheide ich mich wahrscheinlich kein bisschen von all den vielen anderen Sonderlingen: Erst dadurch, dass zum Beispiel die Ungewissheit und die Unvorhersehbarkeit plötzlich in den Fokus der Allgemeinheit rückten, wurde mir klar, dass das Bewusstsein darüber schon immer in mir vorhanden gewesen war. Mir war immer klar gewesen, dass nichts wirklich planbar ist, dass nichts ewig dauert und ich immer in der Lage sein muss, mich veränderten Umständen anzupassen. (Welches Grundschulkind schläft schon mit gepacktem Köfferchen unter seinem Bett und hat einen ausgeklügelten Notfallplan, falls eine schnelle Flucht vonnöten würde?) Was mir nicht klar war, war die Tatsache, dass ich auf diese mühsam erworbene Kompetenz, den Umgang mit der Ungewissheit, auch ein bisschen stolz war: Die Mischung aus prekären Lebensumständen und gewissen Persönlichkeitsmerkmalen hatte mich dazu befähigt, besser auf etwas vorbereitet zu sein, als all die „Normalen“. Ich war quasi eine Soul-Prepperin.

Doch was geschah jetzt? Je länger die Pandemie dauerte, desto weniger einzigartig kam ich mir vor. Plötzlich wurde sich rund um mich rum über „mein Leben“ beklagt: Schon erwähnte unsichere Zukunft, Angst um den Job, zu Hause sitzen, arbeiten wollen und nicht dürfen, Existenzängste, immer flexibel bleiben und sich den neuen Gegebenheiten anpassen, sich gleichzeitig über- und unterfordert fühlen, den Tag selbst strukturieren müssen, sich hilflos fühlen, nicht gebraucht, Einschränkung von sozialen Kontakten (auch wenn das bei mir freiwillig geschieht, weil  ich ohne viel Zeit für mich Zeit mit anderen nicht genießen kann), dieses Jahr keine Reise planen können – außer vielleicht an die Ostsee, wenn alles gut läuft… Hallo! Das war doch mein Bier! Meine Realität seit langer Zeit. Ein großer Teil meiner Mitmenschen schien also nicht einmal ein paar Wochen meines Lebens zu ertragen. – Jetzt erst wurde mir bewusst, was ich in all den Jahren geleistet habe… Und auch, dass es eigentlich gar nicht so schlimm ist, mein Anderssein. Jetzt, wo alle so geworden sind wie ich, fehlt es mir sogar ganz schön! Wenn ich könnte, würde ich laut in die Welt rufen: „Ich will mein Leben zurück!“ – aber sogar diesen Satz hat man mir geklaut.

 Also, liebe Klone: Findet doch bitte so schnell wie möglich wieder zurück in Euer perfekt funktionierendes und organisiertes Leben! Nehmt die nächste Ausfahrt zur Autobahn und lasst mich auf meiner Holperpiste voller Schlaglöcher allein! Bei näherer Betrachtung gefällt es mir hier nämlich ganz gut. Man kommt zwar nur langsam und mühsam voran, sieht aber dafür auch, was da rechts und links am Wegesrand ist. Und wartet mit dem „normal“ werden bitte nicht, bis alles um Euch rum wieder „normal“ ist, denn das wird es eventuell überhaupt nicht mehr. Ich brauche Euer Anderssein zum Anderssein, und ich kann es kaum erwarten, endlich wieder alleine ich zu sein!

(Zuerst erschienen bei CulturMag, 1.5.21)

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Der alte weiße Mann in mir

Seit einem Jahr erscheint hier jeden Monat ein Text von mir, und es wird Zeit für ein Geständnis: Kein Wort von alldem habe ich selbst geschrieben. Also geschrieben im Sinne von getippt natürlich schon – der tollste Mann der Welt hat ja überhaupt keine Hand frei. Er sitzt in einem mit Familienwappen bestickten, seidenen Morgenmantel breitbeinig in seinem Cis-Mann-Sessel - in der einen Hand ein Glas Whisky, in der anderen eine Zigarre - während er mir seine neusten, höchst genialen Gedanken und seine geistreiche Sicht auf die Welt diktiert. Ich gebe mir natürlich Mühe, ihn so gut ich kann zu unterstützen, ihm ein angenehmes Arbeitsumfeld zu schaffen. So sitze beim emsigen Tippen - selbstverständlich perfekt geschminkt und frisiert - auf einem harten Schemel („So eine aufrechte Haltung macht einfach den geileren Arsch!“) und trage außer dem schönsten Schmuck der Frau, einem liebreizenden Lächeln, nur meine 12 Zentimeter Pumps und Strapse. Das ist neben weiteren Selbstverständlichkeiten, wie dafür zu sorgen, dass sein Glas stets gefüllt und sein Aschenbecher stets leer ist, das Mindeste, was ich tun kann. Ehrlich gesagt wundert es mich, dass dieser Betrug nicht längst aufgeflogen ist. Das fängt ja schon mal damit an, dass eine Frau überhaupt nicht über die geistige Größe verfügte, von selbst auf einen so pointierten Namen wie „Der tollste Mann der Welt“ zu kommen. (Oder wer von den Herren wurde schon einmal von einer Frau so genannt, ohne es ihr diktieren zu müssen?)

Aber auch abgesehen davon sind viele meiner Texte ganz offensichtlich nicht „weiblich“. Entweder sie wurden mir also tatsächlich von einem Patriarchen eingeflüstert oder hinter meiner Weigerung, mich als das Opfer zu betrachten, das ich ganz zweifelsfrei bin, muss etwas Krankhaftes, Abnormes stecken.

Das wurde mir zumindest von mehreren Frauen deutlich erklärt, als ich es wagte, mich auf Facebook kritisch gegenüber dem Vorgehen meiner Geschlechtsgenossinnen an der Volksbühne zu äusseren. Beziehungsweise über die Berichterstattung dazu in der taz. Ich will mich darüber gar nicht mehr lange auslassen. Ganz kurz: An der Volksbühne haben sich mehrere Frauen anonym bei der Vertrauensstelle Themis über den Intendanten Klaus Dörr beschwert. Die taz hat dazu einen Artikel unter dem Titel: „Metoo an der Volksbühne - Eine Bühne für Sexisten“ veröffentlicht. Abgesehen davon, dass sein reisserischer Ton Bild-Zeitungs-Charme versprüht und in dem Artikel so ziemlich alle zu Wort kommen, außer dem Beschuldigten selbst, lesen sich die Beschreibungen der „Übergriffe“ etwas putzig (zumindest für mich „Lateral-Violence-Praktizierende“ – später mehr dazu):

“Ähnliches berichtet eine andere Mitarbeiterin der Volksbühne von ihrem ersten Arbeitstag: ein Blick, der am Rockschlitz hängen blieb und erst viel später im Gesicht ankam, Verunsicherung und bei dienstlichen Verhandlungen unter vier Augen das Gefühl: „Als hätte er ein Rauschen im Kopf, ab und zu sitzt da nur ein Stück Fleisch vor ihm und dann wieder ich.“ (Quelle „taz“)

Über wessen Kopfkino sprechen wir hier? Das war mein erster Gedanke. Natürlich geht der gar nicht! Das habe ich auf Facebook selbstverständlich auch nicht geschrieben. Auch nicht, dass irgendjemand irgendetwas mit sich machen lassen solle, was er oder sie nicht will und schon gar nicht, dass es nicht richtig und wichtig sei, Machtmissbrauch öffentlich zu machen. Es ging einzig und allein darum, dass ich das Verhalten der Frauen an der Volksbühne nicht mutig finde. Was ist denn bitteschön mutig daran, sich anonym an eine Vertrauensstelle, also eigentlich an Vater Staat zu wenden und sich über einen Chef zu beschweren, der in einem halben Jahr eh weg gewesen wäre? (Und der anders als in dem taz-Artikel suggeriert, keine Verträge mehr zu verlängern oder zu beenden hatte.) Kein Mensch kann mir weismachen, es ginge darum, andere potentielle Opfer vor diesem Testosteron-Monster zu schützen. Es tut mir leid, aber dafür kenne ich die Menschen und insbesondere die Theater-Menschen einfach zu gut. Ich habe nicht über sexuelle Nötigung und Vergewaltigungen gesprochen, auch nicht über Kindesmissbrauch. Es ging um ein subjektiv als unangemessen empfundenes Verhalten eines Chefs seinen erwachsenen Mitarbeiterinnen gegenüber. Mir ist klar, dass das abhängig vom Alter und persönlichen Traumata der Betroffenen alles andere als, wie oben geschrieben, „putzig“ sein kann. Vielleicht tue ich den Frauen auch Unrecht, schließlich kenne ich sie und ihre Geschichten nicht persönlich. Ich verstehe die Absicht, aber der Weg „empowert“ mich nicht nur nicht, er macht mich sogar wütend, beleidigt mich als Frau mit einem Rollenbild aus Zeiten, in denen man dem schwachen Geschlecht noch mit dem Riechfläschchen hinterherrennen und es vor Drachen retten musste.

Nur, weil der Einsatz einer Fähigkeit unangenehm oder anstrengend ist, heisst das nicht, dass man nicht von uns erwarten kann, sie einzusetzen. Wer „Nein heißt nein“ propagiert, muss auch den Arsch in der Hose haben, „Nein“ zu sagen. Und ich behaupte einfach mal, auch eine durchschnittlich mutige Frau ist dazu in der Lage. Zumindest in dem Fall, von dem wir hier reden. Das wäre für mich Schritt eins. Wenn der nichts bringt, spricht nichts dagegen, sich auch Hilfe von außen zu holen. Wer die „Übergriffe“ an der Volksbühne mit Missbrauch gleichsetzt, verhält sich ungerecht und herabsetzend allen gegenüber, die einen solchen tatsächlich erleben mussten.

Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie wichtig es für Gesundheit und Selbstachtung ist, verletzendes Verhalten nicht „auszuhalten“. Ich habe selbst jahrelangen Missbrauch in einer für mich sehr ungünstigen Machtkonstellation erlebt. Und ja, ich habe Hilfe von außen bekommen. Psychologische Hilfe, die wahnsinnig wichtig für mich war. Jemand Unbeteiligtes, der mir gesagt hat, dass ich nicht schuld bin an dem, was mir passiert ist, dass es nicht an meinem Verhalten oder gar an meiner Person lag, sondern an dem Menschen, der seine Macht missbraucht hat. Und auch, dass meine Wut und meine Trauer vollkommen legitim sind. Aber ohne den Schritt danach, den man nur alleine gehen kann, ist das alles wirkungslos. Die harte Arbeit, die nämlich vor einem liegt, wenn man einmal weiß, was man nicht mehr will, ist die, sich aus der Lähmung der Opferrolle zu befreien und die Macht über sein eigenes Leben, die Verantwortung für die eigenen Entscheidungen zurückzuerobern. Das fängt schon einmal damit an, dass man einen weiteren Missbrauch nicht mehr erlaubt. Das muss man schlussendlich tatsächlich selbst tun. Geschieht das ausschließlich von außen, wiederholt man die Konstellation in anderer Besetzung bis in alle Ewigkeit. Ich kann natürlich nicht für andere sprechen, aber für mich war und ist es überlebenswichtig, diesen Schritt zu gehen. Und das hat nichts mit einer Relativierung dessen, was mir passiert ist, zu tun und schon gar nicht mit einem Verständnis für die oder einer Identifizierung mit der Täter*innenseite.

Was auf persönlicher Ebene längst zum psychologischen Allgemeinwissen gehört, scheint auf gesamtgesellschaftlicher Ebene noch immer große Missverständnisse hervorzurufen. Ja, ausgerechnet durch ein gewisses Verständnis von Feminismus geradezu sabotiert zu werden.

Das Eis, auf dem ich mich bewege, ist hauchdünn. Aber nur, wenn man es darauf anlegt, mich misszuverstehen. Natürlich finde ich es im Fall der Volksbühne besser, den Weg zu gehen, der gegangen wurde, als gar keinen. Aber was ändert sich, wenn einem einzelnen Mann ein Schauprozess gemacht wird? (Wobei: Ein Prozess wurde ihm ja gar nicht gemacht, die Verurteilung kam ganz gut ohne aus. Aber das ist ein anderes Thema.) Ich bin mal ganz ehrlich: Wenn ich ein Mann wäre, der nicht davor zurückschreckt, seine Macht zu missbrauchen, würde mich das auf keinen Fall davon abhalten, das auch weiterhin zu tun. Dörrs Achillesferse war wahrscheinlich einfach nur, dass jede wusste, dass der König sowieso bald abdankt. An dem strukturellen Problem ändert das gar nichts.

Das Patriarchat ist – zumindest hier bei uns – längst ein zahnloser Tiger. Zweifelsohne funktionieren auch heute noch viele alte Mechanismen und die Nutzniesser wären schön blöd, das nicht auszunutzen. Aber faktisch, vor dem Gesetz, sind Mann und Frau gleichgestellt und können dieses Recht auch einklagen. Das strukturelle Problem besteht also weniger auf der Ebene der „Spielregeln“, die sind, was die Geschlechter betrifft, im Großen und Ganzen relativ fair. ( Unverständlich bleibt für mich, wie es mit dem Grundgesetz zu vereinbaren ist, dass Frauen für gleiche Arbeit weniger Geld bekommen oder Schwangerschaftsabbruch auch 2021 noch unter Androhung von Freiheits- oder Geldstrafe im Strafgesetzbuch steht.) Das bedeutet aber nicht, dass damit alles flauschig, konfliktfrei und bequem geworden ist. Wer erwartet, in einem System, das auf Selbstausbeutung basiert (und ich meine damit nicht nur unsere Branche und nicht nur die Frauen) irgendetwas geschenkt zu bekommen, wenn man sich weigert, das Spiel mitzuspielen, hat schon verloren. Und nein, das ist kein Victim-Blaming, sondern mein fester Glaube daran, dass Frauen ebenso starke und mündige Wesen sind wie Männer. Es geht eben genau nicht darum, sich den Gegebenheiten anzupassen, sondern neue zu erschaffen. Dazu müssen wir allerdings von der passiven Figur auf dem Brett zur Spielerin werden. Wie wäre es, wenn wir uns nicht gegenseitig in unserem Opfer-Dasein bestätigten, sondern eher in unser Stärke? Wie wäre es, wenn wir unsere Energie nicht damit verschwendeten, uns gegenseitig als Konkurrenz zu betrachten, gerade die starken Frauen unter uns? Wie wäre es, wenn wir uns alle dafür entschieden, nur noch mit Männern und Frauen zu arbeiten, die ihre Macht nicht missbrauchen, sondern uns mit Respekt behandeln? Wie wäre es, zu erkennen, dass es nicht um „Männer versus Frauen“, sondern um etwas viel Grundsätzlicheres geht? Wie wäre es, wenn wir Vordenkerinnen neuer Formen des Zusammenlebens würden - jenseits von expansiven, patriarchalen, und hierarchischen Strukturen?

Das ist unrealistisch und in der Praxis nicht umzusetzen? Ist es denn realistischer, darauf zu hoffen, dass Menschen, für die missbräuchliches Verhalten seit Jahrzehnten Normalität ist, sich plötzlich ändern? Ist es wirklich klug, so viel Macht an andere abzugeben? Wie sind wir Frauen denn überhaupt zu den Rechten gekommen, die wir heute besitzen? Dadurch, dass „das Patriarchat“ mal eben in sich gegangen ist und sich gedacht hat: „Ist ja irgendwie echt voll nicht in Ordnung, dass wir Frauen so behandeln! Da müssen wir jetzt dringend mal was ändern!“? Durch anonyme Beschwerdebriefe an Kirchenväter und Herrenclubs? Wohl eher nicht. Wohl eher dadurch, dass Frauen sich trotz massiver Nachteile, Repressionen und gesellschaftlicher Ächtung, trotz größter Gefahr, oft sogar Lebensgefahr nicht davon haben abhalten lassen, zu schreiben, zu forschen, ihre Meinung zu sagen, politisch aktiv zu werden, anders zu leben und zu lieben, als es von ihnen erwartet wurde. Es ist gut, dass diese Zeiten vorbei sind! Es ist auch gut, dass es Einrichtungen wie die Themis gibt. Aber wir haben sehr viel weniger zu verlieren als unsere Vorfahrinnen und wagen gleichzeitig sehr viel weniger. Das finde ich traurig.

Die Zeiten, in denen uns ein Mann mit einem falschen Blick entehren konnte sind zum Glück vorbei. Seltsamerweise gibt niemand, nicht einmal der allergrößte Macho-Protz, „dem Mann“ so viel Macht, Potenz und Bedeutung wie eine gewisse Gattung von Feminist*innen. Wenn man wiederum, wie ich, an die Macht und die Kraft von Frauen glaubt, wird man von ihnen auf der Seite des Feindes verortet.

Und hier kommen wir zum Begriff „Lateral Violence“, den ich dank meines Facebook-Posts kennengelernt habe:

Das Phänomen beschreibt, dass sich auf gesamtgesellschaftlicher Ebene benachteiligte Menschen als Reaktion auf ihre Unterdrückung gegeneinander wenden. (…) Das kann erstens zur Selbstabwertung und Scham und zweitens – damit verbunden – zur Abwertung anderer Personen führen, die in einer ähnlichen Weise gesellschaftlich benachteiligt sind. Diese Einverleibung diskriminierender Vorstellungen und Muster findet meist unbewusst statt.“ (Quelle: Jetzt.de)

Das bedeutet also: Entweder bin ich es bewusst oder unbewusst. Aber ums Opfer sein komme ich auf keinen Fall rum.

An dem Phänomen an sich ist bestimmt was dran, aber in diesem speziellen Fall ist es etwas komplizierter: Ähnlich wie der Neoliberalismus Sklaventreiberei und strenge Hierarchien überflüssig gemacht hat, da das System diese Aufgaben einfach direkt an das Individuum geout-, beziehungsweise geinsourct und uns so zu unseren eigenen, denkbar ausbeuterischen Chefs gemacht hat, funktioniert es auch hier: Kein Mann hat das Recht, einer Frau vorzuschreiben, wie sie sich kleiden soll, wie sie zu leben, was sie zu tun oder zu lassen hat. Das ist sowohl auf juristischer als auch auf gesellschaftlicher Ebene Konsens. Und jetzt, an dem Punkt, an dem wir so frei, gleichberechtigt und selbstbestimmt sind wie noch nie, versuchen wir nicht etwa, unser Leben so zu leben, wie wir es wollen, sondern übernehmen bereitwillig die Funktion des einstigen Patriarchats, verschwenden unsere Kraft, unsere Phantasie und Lebensfreude damit, anderen Frauen vorzuschreiben, wie sie sich zu kleiden, wie sie zu leben, was sie zu tun und zu lassen, ja sogar was sie zu denken haben. Und wenn das nicht dem klassischen Frauenbild (also dem des unmündigen Opfers, das beschützt werden muss) entspricht, kann das nur daran liegen, dass sie des Teufels, also des Mannes ist. Dieser Mechanismus ist deshalb so perfide, weil ich mich, da die Repression von Frauen kommt, nicht dagegen wehren kann ohne dem Mechanismus neuen Treibstoff zu geben.

Mir wird von anderen Frauen die Fähigkeit, selbst zu denken und zu fühlen abgesprochen, weil ich in einem bestimmten Punkt nicht so denke und fühle wie sie. Die einzige Erklärung, die es dafür für sie gibt, ist, dass ich ein Opfer einer Patriarchats-Gehirnwäsche bin, Opfer einer „Identifikation mit dem Aggressor“, Opfer einer Art Stockholm-Syndrom. Frauen, die dafür sind, dass Opfern geholfen wird (und das einzig vernünftige Ziel, das sie damit verfolgen können, ist doch, dass es dadurch weniger Opfer gibt), werfen mir vor, dass ich mich nicht als Opfer fühle? Das ist doch einigermassen absurd…

Ja, man kann mich einem bestimmten Geschlecht zuordnen, einer Alters- und Berufsgruppe, einer Nationalität und einer bestimmten Klasse (in unseren Breitengraden übrigens einiges determinierender als das Geschlecht). Aber das alles bin nicht ich. Deshalb lasse ich mich auch von niemandem in Sippenhaft nehmen. Ich bin Iris und ich fühle nicht wie eine Frau, eine Schauspielerin oder eine Schweizerin, sondern wie Iris. Und als solche kann ich mich nur mit anderen Individuen solidarisieren, nicht mit irgendwelchen Fussball- oder Frauenvereinen. Ich bin Iris, und ich denke wie Iris. Und es wird ganz sicher immer irgendwen geben, der oder die das, was ich denke, scheisse findet, weil es eben nicht das ist, was er oder sie denkt. Aber es ist MEINE Scheisse, für die ich bitte die volle Verantwortung übernehmen möchte. Es ist nämlich zu anstrengend, das Denken, um Kritik oder Zustimmung dafür einfach ans Patriarchat abzugeben.

Das war jetzt zu simpel, zu Victim-Blaming, zu verharmlosend, zu whataboutismig, zu irgendwas? Wisst Ihr was? Ich darf das! Schließlich bin ich ein alter weißer Mann und die dürfen alles!

- Mein Whisky-Glas könnte übrigens mal wieder gefüllt werden, du heisses Gerät…

(Zuerst erschienen bei CulturMag, 1.4.2021)

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Meisen und Depressionen

„Guck mal, ich bin gut zu Vögeln!“, sage ich zum Glück nicht. So viel Selbstachtung, diesen traurigsten aller traurigen Kalauer auf meinen Lippen ersterben zu lassen, ist mir immerhin noch geblieben. Obwohl… - Wahrscheinlich wäre der tollste Mann der Welt zur Zeit selbst für dieses ungelenke Zeichen des guten Willens, sowas wie humorvoll zu sein, dankbar.

„Guck mal, ich habe Meisenknödel gekauft!“, sage ich stattdessen zu dem Mann, der im Gegensatz zu mir einen produktiven, sinnerfüllten Tag als nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft hinter sich hat. „Toll!“, sagt er und blickt anerkennend auf die Fettkugel im grünen Netz, die ich mit einer Schnur an unserem Terrassengeländer direkt vor meinem Schreibtisch befestigt habe. Wenn ich nämlich ganz ehrlich bin, stimmt das mit dem „gut zu Vögeln“ nicht mal: Die Vögel kommen ganz gut ohne mich klar. Es geht eher darum, dass ich mir eine Verbesserung meiner Gemütslage erhoffe, wenn sich putzige kleine Rotkehlchen, Blaumeisen und Grünfinken an meiner großzügigen Gabe erfreuen. Vielleicht kommen da ja sogar Vogelarten angeflogen, die ich noch gar nicht kenne, und die könnte ich dann mit dem Vogelbestimmungsbuch, das irgendwo im Regal rumsteht, bestimmen und käme dann als gestählte Vogel-Expertin aus dem Lockdown. Vielleicht werden die kleinen Racker ja auch ganz zutraulich, wenn sie merken, dass ich ihre Wohltäterin bin. Dann würde ich meine Haare endlich mal wieder offen tragen, statt zum praktischen Dutt gewurstelt, ein elfengleiches Kleid anziehen und, so ähnlich wie in einem Disney-Film, mit ausgebreiteten, alsbald vogelbesetzten Armen auf die Terrasse treten und mit meinen gefiederten Freunden ein lebensfrohes Liedchen trällern.

Vorerst hält sich der Run, beziehungsweise der Fly auf meine milde Gabe allerdings in Grenzen. Besser gesagt: kein einziger Vogel weit und breit! Zumindest nicht an meinem Knödel. Bei den Nachbarn, die nicht nur mehrere Knödel aufgehängt, sondern auch noch ein Vogelhäuschen auf ihrer Terrasse aufgestellt haben, herrscht ein munteres Picken und Tirilieren.

Am ersten Tag schiebe ich das noch darauf, dass die Vögelchen erst noch entdecken müssen, dass es eine neue Futterstelle gibt. Am zweiten Tag versuche ich mich beim Arbeiten am Schreibtisch noch weniger zu bewegen, als ich das ohnehin schon tue, um die Tiere nicht durch meine Anwesenheit hinter der Fensterscheibe vom Anflug auf meinen Knödel abzuhalten.

Am dritten Tag erwäge ich, heimlich auf die Nachbarterrasse zu steigen, um das Konkurrenzangebot in Augenschein zu nehmen. Für das 6er Pack Meisenknödel habe ich zwar mehr ausgegeben als für meine Ernährung der letzten Tage, aber im Regal lagen neben der 08/15 Version eben auch dreimal so teure Dinge wie „Birdy´s Wild-Berrie-Dream“ oder „Amaranth-Cranberry-Power-Balls“. Vielleicht war es ja naiv, das als dreiste Geldmacherei zu verlachen. Vielleicht haben die Pankower Hipster die einst stolzen Wildtiere ja zu verweichlichten, verwöhnten Hipster-Vögeln umerzogen. Ja, wahrscheinlich würden sie den Vögelchen kleine Flughelme und Reflektoren für die Flügel verpassen, wenn sie es könnten!

Der vierte Tag beginnt mit Tränen – nicht wegen des immer noch völlig unberührten Meisenknödels, sondern weil ich zu nichts anderem fähig bin, als vor meinem aufgeklappten Laptop zu sitzen und auf den Bildschirm zu starren, der ebenso leer bleibt wie meine von den Vögeln gemiedene Terrasse und, wie es mir jetzt scheint, mein ganzes verdammtes Leben. Nichts geht mehr, keine Kreativität, nirgends! Und da es die Kreativität ist, von der ich lebe, packt mich zu meiner Erschöpfung auch noch die Existenzangst. Ob man Meisenknödel essen könnte, wenn es hart auf hart käme? Vielleicht in Scheibchen geschnitten und gebraten? - Bevor ich diesen Gedanken weiter vertiefen kann, entscheide ich mich, wenigstens einen einzigen Punkt auf der langen To-Do-Liste abzuhaken und einen guten Freund zurückzurufen.

Es tut gut, einen Menschen am Ohr statt keine Vögel auf der Terrasse zu haben. Ihm geht es gerade ähnlich wie mir: Wir sind uns einig darüber, dass wir „Mittelalten“ es im Moment am allerschwersten haben: „Immer dieses Gerede über die armen Kinder und Jugendlichen, die ach so sehr unter dem Lockdown leiden!“, sagt er. „Die ganzen letzten Jahre haben sich alle um mich herum darüber beklagt, dass sie ihre Kids nicht vom Sofa runterkriegen, sie nicht dazu bewegen können, raus zu gehen, ihre Freunde in echt zu treffen, statt nur virtuell beim Zocken. Und jetzt auf einmal scheint das unstillbare Bedürfnis nach einer 60er Jahre Jugend ausgebrochen zu sein.“ „Ja, genau!“, stimme ich begeistert in unseren Selbstmitleids-Chor ein. „Und die Boomer haben die Zeit ihres Lebens: Knapp vor Rollator noch einmal Rebell sein, die Maske schneidig unter der Nase tragen und Politiker, Virologen und Bill Gates die Schuld für ihr gescheitertes Leben geben – herrlich!“

Wir kommen immer mehr in Fahrt, sind jetzt bei den über 80 Jährigen: Wir malen uns aus, wie es wäre, wenn schon bald nur Geimpfte Konzerte, Festivals, Clubs und Kneipen besuchen dürften, wie die Alten die Städte, aus denen sie mehr und mehr verdrängt wurden, zurückeroberten, das Nachtleben, die Musik, die Drogen auf sie zugeschnitten würden. Einen Film müsste man darüber machen, ein Drehbuch schreiben wenigstens…

Aber an diesem Punkt kommen wir wieder auf den Boden der Tatsachen und damit darauf, dass Midlifecrisis und Corona die wirklich aller, aller fieseste Kombination ist: Hatten wir es doch in der letzten Zeit ziemlich gut hingekriegt, uns mit völliger Überarbeitung, immer höheren Erwartungen an uns selbst und/oder der Aufzucht von Kindern von der Tatsache abzulenken, dass es für uns, wenn man nicht an irgendwelche Everything-is-possible-Life-Coach-Heinze, sondern an Biologie und Schwerkraft glaubt, sowohl karriere- , als auch gesundheits- und schönheitstechnisch von spätestens nun an nur noch steil bergab gehen kann und definitiv und unwiderruflich tödlich enden wird. Dass die Wahrscheinlichkeit, „dann irgendwann“ den großen Durchbruch zu schaffen, die große Rolle zu spielen, den mindestens einen Bestseller zu schreiben so verschwindend klein ist, dass wir es eigentlich auch einfach lassen könnten, mussten wir vor lauter Machen nicht merken.

„Weißt du“, sage ich, „wenn ich mir meine Zukunft überhaupt irgendwie vorgestellt habe, dann so, dass ich mit um die 60 an einem netten Herzinfarkt sterbe – natürlich nicht in 20, sondern in gefühlten 200 Jahren. Von mir aus gerne während ich irgendeine Hochleistungssportart ausführe, die ich in den nächsten Jahren irgendwann beginnen würde, und von der ich dann eine Leiche mit straffem Gesäß und trainierten Oberamen abgeben würde. Und unbedingt noch bevor ich mir Gedanken darüber machen kann, dass ich mir von 40 Jahren Gemache und Getue nicht einmal eine unterbezahlte Pflegekraft werde leisten können, die dereinst meine Windeln wechselt. Damit hätte ich leben und dann eben auch sterben können. Aber jetzt sind wir von mitten drin plötzlich auf Ende gebeamt worden, führen unfreiwilligerweise ein Rentnerleben und fangen plötzlich an, über das Leben zu reflektieren. Und gleichzeitig sollen wir uns auf irgendwas vorbereiten, von dem wir nicht wissen, was es sein wird, nur dass es definitiv welche geben wird, die besser darauf vorbereitet sein werden als wir!“

- Während des Telefonats habe ich den unbevogelten Meisenknödel nicht aus den Augen gelassen und plötzlich erscheint er mir als Sinnbild für mein ganzes Leben: „Ich weiß echt nicht, wie ich noch Kraft aufbringen soll, irgendwas zu wuppen, wenn ich es noch nicht einmal schaffe, einen Meisenknödel an die Meise zu bringen!“ - Die Stille am anderen Ende der Leitung verrät mir, dass selbst mein schwarz-mal-qualifiziertester Kumpel peinlich berührt ist von so viel Selbstmitleid. Schnell versucht er dann auch, das Gespräch zurück auf eine normale Temperatur zu bringen: „Ja, für so´ne Powerfrau wie dich ist das Ganze bestimmt besonders schwer!“, sagt er. Ich weiß, er will nett sein, meint es gut. Aber der Kontrast zwischen einer „Powerfrau“ und der Luschenfrau, die ich gerade bin, tut so weh, dass ich am liebsten losheulen möchte. Da ich mir diese Blöße aber nicht auch noch geben will, suche ich lieber Streit:

„Powerfrau!? Was ist das denn für ein bescheuerter Ausdruck? Soll das so ein Synonym für „fast so gut wie ein Mann“ sein? Gibt es auch Powermänner? Oder sind grundsätzlich alle Männer Powermänner und das muss gar nicht extra gesagt werden?“ Bevor er irgendwas antworten kann, fühle ich es schon: Zaaaack, ins eigene Knie geschossen! Jetzt bin ich nicht nur eine Luschenfrau, sondern fühle mich auf einen Schlag 30 Jahre älter, und aus der spiegelnden Fensterscheibe blickt mir das gehässige Gesicht von Alice Schwarzer entgegen.

Ich bringe gerade noch eine halbgare Entschuldigung zustande: „Alles ein bisschen viel…“ und „Ich melde mich…“ Dann ist wieder Stille, und ich sitze immer noch am Schreibtisch, starre immer noch auf den verfluchten Knödel, bringe immer noch keine Arbeit aus mir raus.

Im Radio habe ich einen Bericht über eine Ausstellung von Kunst aus einem türkischen Frauenknast gehört. Die Gefangenen haben Pinsel aus ihren Haaren und aus Taubenfedern hergestellt und Bilder mit ihrem Menstruationsblut gemalt. Panflöten aus Einwegrasierern haben die gefertigt und ganze Symphonien damit komponiert. Und ich…? Ich bin nicht im Gefängnis, sondern im allerschönsten Zuhause der Welt und mir fällt zu Einwegrasierern gerade nur „Pulsadern aufschlitzen“ und zu Taubenfedern „Alle abknallen, die Mistviecher!“ ein. Mit festem Blick auf den Meisenknödel steigert sich mein Unverständnis für die Vögel immer mehr zu Hass. So sitze ich noch immer da, als der tollste Mann der Welt nach Hause kommt:

„Alles gut?“

„Nein!“

„Was'n los?“

„Diese blöden Scheiss-Meisen!“

„Das sind keine blöden Scheiss-Meisen!“

„Doch, sind sie! Und übrigens wurde in wissenschaftlichen Studien ein eindeutiger Zusammenhang zwischen der Angewohnheit viel zu fluchen und einer überdurchschnittlich hohen Intelligenz festgestellt.“

„Naja, „blöde Scheiss-Meisen“ ist jetzt nicht unbedingt fluchen…“

„Dann sind es eben verfickte, blöde Scheiss-Kack-Kotz-arschgefickte-Mutterficker-Meisen! Intelligent genug, verfickte Scheisse nochmal?“

„Na, auf jeden Fall wären die streikenden Meisen doch ein Thema für die Kolumne, oder nicht?“

In dem Moment fliegt tatsächlich ein Vogel, sogar eine ganz klassische Meise, direkt auf meinen Knödel zu und beginnt unbekümmert an ihm rumzupicken… Ich hasse diese Vögel!

(Zuerst erschienen im CulturMag am 1.3.2021)

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Homo lockdownicus

Ich hänge an einer langen Schnur und befinde mich etwa zehn Meter über der Erde, beziehungsweise über dem Asphalt des Rummelplatzes unter mir. Ein paar Schaulustige blicken zu mir hoch. Das andere Ende der Schnur hält ein Mann und hindert mich so, wie einen Luftballon, am Wegfliegen. Ich schlage wie wild mit den Armen und führe gleichzeitig ebenfalls sehr anstrengende, putzig aussehende Brustschwimm-Bewegungen mit meinen Beinen aus. (Ja, ich sehe mich im Traum fast immer von außen, oft kommentiert sogar eine nüchterne Off-Stimme das Geschehen – besonders bei Albträumen: „Er kommt nun mit der Kettensäge auf sie zu. Da ihr bereits ein Bein fehlt und sie stark blutet, gestaltet sich die Flucht schwierig.“ Und nein, ich möchte das nicht von einem Psychologen gedeutet bekommen.)

Während ich mich in der Luft abstrample, weiß ich, dass das gar nicht nötig wäre. Ich bräuchte nur die Arme auszubreiten und mich vom Luftstrom unter mir tragen zu lassen. Das führe ich dem gesichtslosen Mann, der die Schnur hält, auchgleich vor: „Guck mal, es geht auch so!“, rufe ich zu ihm runter. Doch anstatt sich zu freuen, befiehlt er mir, weiter zu flattern: „Die Leute wollen sehen, dass du dich anstrengst, die bezahlen sonst nichts!“, ruft er mit einer Geste auf den nur spärlich gefüllten Coffee-to-go-Becher zu seinen Füssen.

Es ist Lockdown. Immer noch? Schon wieder? Auf jeden Fall mehr „down“ als „lock“ - Kultur und Gastronomie, zwei mächtige Instrumente gegen Downs sind nach wie vor geschlossen, die Betriebe und damit auch der öffentliche Nahverkehr sind nach wie vor unlocked.

Ich mache eigentlich nur das, was ich immer schon gemacht habe: Ich passe mich den Umständen an. Ironischerweise sind wir Künstler nicht nur in Sachen Stadtteil-Gentrifizierung die Wegbereiter – die Eröffnung von Galerien und Off-Bühnen war jedes Mal ein Zeichen dafür, dass ich mir meine Miete bald nicht mehr würde leisten können. Nein, auch was die Arbeitswelt betrifft, waren wir die Avantgarde in Bezug auf prekäre Anstellungsverhältnisse und eine enormen Flexibilität als Grundvoraussetzung fürs Überleben. Und das kommt mir nun zugute. Ehrlich gesagt ist mein größtes Problem im Moment (und damit persifliere ich die Luxusprobleme meiner Mitmenschen, die wie ich in einem reichen Industrieland leben unfreiwilligerweise), dass ich keine Probleme habe, dass mir nichts fehlt, es mir wahrscheinlich sogar besser geht als vor einem Jahr. Natürlich immer unter der Bedingung der Annahme, dass ich irgendwann wieder Freunde treffen kann – zu anderen Gelegenheiten als Spaziergängen, denn die mache ich am liebsten alleine. Dass ich wieder in Kneipen und Restaurants, zu Konzerten und in Clubs gehen kann, die ein oder andere Reise werde unternehmen können. Und nicht zuletzt auch selbst wieder auf der Bühne stehen darf. Aber ich habe es damit nicht so eilig. Vielleicht habe ich einfach das Glück, zu den immerhin zwei Dritteln der Menschen zu zählen, die laut Kommunikationsforscher Jürgen Grimm eine sogenannte „Höhlenkompetenz“ besitzen. Eine Fähigkeit, die unsere Vorfahren während Eiszeiten und anderen Katastrophen dazu brachte, die Wände ihrer Höhle zu bemalen, statt, wie ihre Artgenossen, ihre Köpfe gegen selbige zu schlagen. Vielleicht – und deswegen wird die Problemlosigkeit für mich zum Problem – hatte ich einfach auch schon vor Corona ein unglaublich tristes Leben. Wenn ich mich so umgucke, habe ich auf jeden Fall nicht das Gefühl, dass zwei Drittel meiner Mitmenschen gut mit der Situation klarkommen. Allen scheint so wahnsinnig viel zu fehlen. Sie fühlen sich in ihrer Freiheit beraubt, „eingesperrt“. Ich mache – wie auch schon vor der Pandemie – täglich einen zweistündigen Spaziergang und denke: „Beim besten Willen schaffe ich es nicht 15 Kilometer ab Stadtgrenze.“ Irgendwas müssen die vorher also gehabt haben, was ich nie hatte.

Natürlich trägt die Tatsache, dass ich in meiner Höhle nicht über einen Jahresvorrat an gepökelten Mammut-Lenden und eingelegten Säbelzahntiger-Öhrchen verfüge, dazu bei, dass ich mir einen Höhlenkoller gar nicht leisten kann: Nach der ausgefallenen November- und Dezember- und Januartournee ist jetzt klar, dass auch im Februar nicht gespielt wird. Weil ich gehäuft Anfragen für Sprecherjobs bekommen habe - professionelle Aufnahmemöglichkeit vorausgesetzt - habe ich mir mein eigenes Heimstudio aufgebaut. Täglich schicke ich MP3s und WAVs, gleich kleiner Flaschenposten (tatsächlich der korrekte Plural), aus der Stille meiner Höhle, hinaus in die Welt.

Das ist ein gutes Gefühl. Selbstermächtigung nennt man das, glaube ich, in der Psychologie. Ich bin keine zwangsarbeitslose Schauspielerin, sondern die mächtige Studio-Bossin von „Curry-Hahn-Records“. Neben der Erwirtschaftung des Lebensunterhalts tut es nach den Monaten, in denen uns Kulturschaffenden ziemlich klar gesagt wurde, dass wir überflüssig sind, auch einfach gut, ein kleines bisschen gebraucht zu werden, Aufträge zu bekommen und vor Herausforderungen gestellt zu werden. Denn auch wenn mich diese in den letzten zwanzig Jahren oft gestresst haben, und ich immer wieder schmerzhaft an meinen eigenen Ansprüchen gescheitert bin, mir gewünscht hätte, einfach nur die Flügel auszubreiten und mich vom Luftstrom tragen zu lassen: Ich fühle mich nicht wie eine Heldin, wenn ich still auf dem Sofa sitze. Und auch die Tatsache, dass man sich bereits als geistig gesund und überdurchschnittlich intelligent betrachten darf, wenn man nicht an eine weltweite Elite glaubt, die Satan anbetet und unter dem BER Kinder foltert, hebt mein Selbstbewusstsein nicht wirklich.

Außer meiner Kreativität, die neben einem Kanal auch Empfänger braucht, Neugier und einem wahrscheinlich mehr oder weniger gesunden Ehrgeiz, spielt dabei aber auch noch etwas anderes eine Rolle: Ich spüre unter den scheinbar geringen Anforderungen, die an mich gestellt werden, etwas, das schon vor der Pandemie da war und das sich nun in einer tieferen Schicht zu einer giftigen Essenz zusammenbraut: Wer wird die Krise wirtschaftlich und mental meistern? Ohne Pläne machen zu können? Ohne zu wissen, was in einem halben Jahr relevant sein wird? Noch mehr Flexibilität ist gefragt und das mit eingeschränkter Bewegungsfreiheit.

Von der Angst, die diese Fragen auslösen, bin ich – Höhlenkompetenz hin oder her - alles andere als frei. Und so verbringe ich meine Tage eben nicht damit, Dinge zu tun, für die ich vor einem Jahr noch keine Zeit hatte oder mich einfach mal gepflegt zu langweilen. Stattdessen verstärke ich meine Aktivitäten ganz nach dem Motto: Zwei Säbelzahntiger-Öhrchen sind besser als eins! Ich bin damit nicht allein: In unsicheren Zeiten greifen Menschen gerne auf Verhaltensweisen zurück, mit denen sie Probleme in der Vergangenheit gemeistert haben. Im Grunde nichts Schlechtes, aber wenn sich die Umstände geändert haben, kann dieser Reflex zur tödlichen Falle werden. Auf diese Weise sind die Wikinger ebenso gescheitert wie die Maya. Und mal ganz abgesehen davon, dass es sinnvoll ist, seine Taktiken den (veränderten) Gegebenheiten anzupassen, wäre eine Krise vielleicht auch eine Gelegenheit, zu analysieren, wie es dazu kam. Denn diese Pandemie ist keine Strafe eines launischen Gottes (wobei: selbst wenn man an diese These glaubt, müsste man sich doch fragen, wofür wir bestraft werden), sondern eindeutig von uns selbst fabriziert. Eventuell ist es also nicht die klügste Entscheidung, die Verhaltensweisen, die uns an diesen Punkt gebracht haben, nicht nur nicht zu unterlassen, sondern sogar noch zu verstärken. Oder wie Tucholsky es formulieren würde: „Erfahrung heißt gar nichts. Man kann seine Sache auch 35 Jahre schlecht machen.“ - Tja, oder eben 200 Jahre, oder wie lange dieses Kapitalismus-Ding jetzt schon läuft. Und sogar, wenn es eine Weile gut gelaufen ist und vielleicht sogar ein richtiger Weg zur richtigen Zeit war, spätestens seitdem der Kapitalismus zum Raubtier geworden ist, ist er es offensichtlich nicht mehr.

Eigentlich wissen wir das ja alle, (diejenigen, die daran glauben, dass sich Frau Merkel zum Feierabend einen Säugling am Spieß in ihrem unterirdischen Geheimbunker gönnt, lasse ich jetzt mal außen vor), und die Pandemie ist, wie so oft gesagt, ein Brennglas, das es uns noch deutlicher vor Augen führt. Aber wahrscheinlich ist es einfach sehr schwer, bis unmöglich, sein Verhalten, seine Denk- und vor allem Fühlweise so grundlegend zu ändern, wie es nötig wäre, wenn man in dem sektengleichen, fanatischen Glauben an Wachstum und „mehr ist mehr“ aufgewachsen ist. Vielleicht schafft das ja die Generation nach uns oder die übernächste, wenn es die noch gibt. Im Moment ist leider nichts zu merken von einem Sinneswandel. Der Homo lockdownicus ist nicht mehr und nicht weniger als Homo oeconomicus im Standby-Modus.

Tja, und ich, so oft ich mich auch als Ausserirdische fühle, bin da kein bisschen besser: Die größten Kritiker der Elche sind – in meinem Fall – selber welche. Und so träume auch ich weiter vom Fliegen, ohne je zu vergessen, dass die Kasse dabei klingeln muss und mehr Geflatter mehr Geklingel bringt.

(Zuerst erschienen bei CulturMag am 1.2.21)

In eigener Sache

In schlappen acht Monaten als Kolumnistin habe ich es geschafft: Ich bekomme Nachrichten von Menschen, die ich nicht kenne. Sogar zwei anonyme E-Mails waren dabei! Leider sind es keine Drohungen, Beschimpfungen oder lukrative finanzielle Angebote unter der Bedingung, dass ich die Schreiberei sein lasse. (Falls sich jemand von Letzterem inspiriert fühlen sollte: Meine Mailadresse ist ziemlich leicht rauszukriegen…) Das wäre ja eine Auszeichnung. Nein, es handelt sich um Lob und Bewunderung. Allerdings irritiert mich das häufigste Lob ehrlich gesagt mehr, als es jede Kritik könnte: Ich, beziehungsweise das, was ich schreibe, sei mutig, steht da - in Facebook- und WhatsApp-Nachrichten und eben auch in Mails, für die sich jemand extra eine Wegwerfadresse zugelegt hat.

Wenn man genauer hinschaut, ist das vielleicht doch eine Drohung. Jedenfalls löst dieses „Kompliment“ bei mir sofort eine Abwehrreaktion aus. Vielleicht, weil Mut und Angst unmittelbar zusammenhängen und man jemandem, dem man Mut bescheinigt, damit indirekt zu verstehen gibt, dass er eigentlich Angst haben müsste. Und das bedeutet dann wiederum, dass er nicht gerade klug handelt. Also nicht nur eine Drohung, sondern auch noch eine Beschimpfung.

Die nüchterne Definition im Duden bestätigt mich in meinem flauen Gefühl. Mut wird dort folgendermassen definiert:

1. Fähigkeit, in einer gefährlichen, riskanten Situation seine Angst zu überwinden; Furchtlosigkeit angesichts einer Situation, in der man Angst haben könnte

“großer Mut”

2. [grundsätzliche] Bereitschaft, angesichts zu erwartender Nachteile etwas zu tun, was man für richtig hält

“politischer Mut”

Nun, ich würde mich gerne wichtig fühlen, mir zumindest ein klitzekleines Fähnchen basteln und „Mut“ drauf schreiben. Aber so gut funktioniert die Selbstreflexion dann eben doch noch: Nichts von dem, was ich in den letzten Monaten geschrieben habe, war mutig. Ich vertrete nun wirklich keine radikalen Ansichten. Im Gegenteil: Mein 16 Jähriges Ich würde sich ob meiner höchst konservativen Positionen (Anstand, Rücksicht, Mässigung, Vernunft und Solidarität) wahrscheinlich angewidert und schwer enttäuscht abwenden.

Angst begleitet mich seitdem ich auf der Welt bin. Sie ist durch meine Entscheidung, mich als Schauspielerin freischaffend auf einen Markt zu werfen, auf dem das Angebot die Nachfrage bei weitem übersteigt, bestimmt nicht kleiner geworden. Und die zusätzlichen Ängste, die durch die Pandemie uns alle betreffen, betreffen selbstverständlich auch mich. Aber wenn das Schreiben überhaupt in irgendeiner Weise mit der Bewältigung dieser Ängste zu tun hat, dann nicht mehr und nicht weniger als es die Beschäftigung mit Laubsägearbeiten hätte.

Meine anonymen „Fans“ scheinen sich aber mehr auf den zweiten Punkt zu beziehen, also auf „die Bereitschaft, angesichts zu erwartender Nachteile etwas zu tun, was man für richtig hält“. - „Es gibt auch in Ihrer Branche viele Entscheider, die nicht zu links-grün tendieren“, schreibt „Ein Freund, der es gut mit Ihnen meint“. Als ich das las, war mein erster Gedanke, dass ich es nicht für möglich gehalten hätte, dass jemand, der keine Figur in einem C-Movie ist, auf diese Unterschrift kommt. Der zweite, ob ich meine persönliche Definition der AfD (Partei für Alte unterfickte Deppen) vielleicht doch in irgendeinem Text zum besten gegeben habe und der dritte: Mache ich verdammt nochmal einen so verzweifelten Eindruck, als könnte ich darauf angewiesen sein, mit Arschlöchern zu arbeiten?

Bei näherer Betrachtung irritierte mich dann das „grün“. Seitdem die CDU für sich beansprucht, die „Partei der Mitte“ zu sein, müsste ich mich vielleicht mit vielen meiner Ansichten als linksradikal bezeichnen lassen (auch wenn diese Ansichten, wie schon gesagt, alles andere als radikal, in gewisser Weise vielleicht sogar „christlicher“ sind, als die der Partei, die das zu Unrecht in ihrem Namen trägt). Ich bin in keiner Weise parteipolitisch unterwegs. Aber „grün“? - Die Entscheidung zwischen AfD und den Grünen entspräche für mich in etwa der, zwischen Eitriger Beulenpest und sagen wir mal Genitalherpes – natürlich würde ich mich für Letzteres entscheiden, wenn ich müsste. Aber zum Glück muss ich nicht! Naja, irgendwie beruhigend, dass mich der anonyme Schreiber so wenig kennt.

Im Gegensatz zu den Zombies (gibt es eigentlich Zombies, die sich von ihrem eigenen Gehirn ernähren?), die zur Zeit in kaum zu ertragender Art und Weise Werte und Begriffe ad absurdum führen, sich Dinge auf die Fahne schreiben, für die sie gerade nicht stehen: „Freiheit“, „Gemeinschaft“, „Liebe“, „Skeptiker“, „Revolution“, „selber denken“, „hinterfragen“, ja, auch „Mut“, im Gegensatz zu den Menschen, mit denen uns das Virus laut und deutlich zuruft: „Ihr seid zu viele und irgendwas ist bei Eurer Reproduktion schief gelaufen, degeneriert!“ weiß ich, dass die Meinungsfreiheit nicht in Gefahr ist. Von der Verhöhnung von Holocaust-Opfern über Lynch-Phantasien gegenüber Regierungsangehörigen und Wissenschaftlern – solange man sich an die Abstandsregeln hält, braucht man dafür nicht einmal einen sanften Regenschauer aus Wasserwerfern zu befürchten. Gerade die Walking-Dead-Fraktion ist der beste Beweis dafür, dass man in diesem Land alles, aber auch wirklich alles sagen kann, ohne Sanktionen zu befürchten.

Was also ist an meinen Texten so gefährlich, dass es Mut kosten könnte, sie zu veröffentlichen? Was ist an dem, was ich schreibe so provokant, dass es mir Nachteile bringen könnte? Ich vermute, dass es nicht darum geht, was ich schreibe, sondern darum, dass ich es überhaupt tue. Dass ich mich als Person zu erkennen gebe, meine bescheidenen (und das meine ich in diesem Fall wörtlich) Gedanken öffentlich mache und dass ich das mit meinem Hauptberuf, als Schauspielerin tue. Das erste, was man in jedem Selbstmarketing-Kurs lernt ist, „No politics“. Ist ja auch logisch: Ich bin, wie schon gesagt, die Ware auf einem Markt, der nicht gerade nach mir schreit. Also wäre es doch dumm, irgendeinen potentiellen Kunden mit irgendwas zu erschrecken, was eventuell nicht ganz seiner Meinung entspricht. Legitim wären also vielleicht Make-Up-Tipps, ein bisschen Fitness und Äusserungen zu Schuhen und Klamotten. Denn (ja, tut mir leid, aber das muss ich so sagen) wahrscheinlich geht es auch darum, dass ich eine Frau mit diesem Beruf bin. Daran hat leider alles #MeToo nichts geändert: Mit Ausnahme der wenigen Sapiophilen und den noch viel selteneren Männern (zumal in meiner Branche) mit einem gesunden Selbstbewusstsein, ist eine Frau, die denkt (egal was) immer noch tendenziell unfick- und damit unbesetzbar. Zumindest ist das so in der Generation, die heute noch die meiste Macht besitzt.

Nun ist mein Realitätssinn auch in diesem Punkt noch soweit intakt, dass ich nicht glaube, irgendwelche wichtigen Entscheider – Produzenten, Redakteure - hätten nichts besseres zu tun, als meine Textchen zu analysieren. Dafür bin ich ganz einfach zu unwichtig. Das so klar und nüchtern zu sehen, erfordert zwar etwas Mut, ist aber letztendlich eher entspannend als schmerzhaft.

Mutig als Schauspielerin wäre es vielleicht, Namen von Männern zu nennen, die im Gegensatz zu mir etwas zu verlieren haben. Männer, die in wichtigen Positionen sitzen, die mich eine „wahnsinnig spannende Schauspielerin und eine faszinierende Frau“ fanden und von denen ich, nachdem ich den Austausch von Körperflüssigkeiten höflich abgelehnt hatte, nie wieder etwas gehört habe. Noch mutiger wäre es, zuzugeben, dass ich in den allermeisten Fällen erst im Nachhinein kapiert habe, dass es dabei um einen Handel gehen sollte, dass ich nicht in erster Linie moralisch-sittliche Entscheidungen getroffen habe, sondern ganz einfach persönliche („Ich habe keine Lust auf diesen Mann und genug Optionen Sex mit Männern zu haben, auf die ich Lust habe, also nein!“), dass ich also nicht mit Sicherheit sagen kann, wie ich auf ein klares Geschäft („Die und die Dienstleistung für die und die Rolle“), das mir in dieser Klarheit nie unterbreitetet wurde, reagiert hätte. Und am allermutigsten auf diesem Feld wäre es schlussendlich zuzugeben, dass diese „Angebote“ seit Jahren rückläufig sind, und dass mir das neben aller Erleichterung manchmal auch ganz schön Angst macht, weil es mir zeigt, dass mein Marktwert trotz stetig wachsender Berufserfahrung mit jedem Lebensjahr sinkt. Das alles wäre mutig. Aber auch ganz schön dumm.

Tja, und sonst? Was wäre denn politisch eine „mutige“ Aussage? Ich glaube, sagen oder schreiben kann man überhaupt nichts Mutiges. Man könnte es tun. Man könnte sich als freiwillige Helferin in den Flüchtlingslagern melden oder von mir aus auch nur bei der Obdachlosenhilfe in Berlin. Das wahrscheinlich Mutigste, was man in diesem System tun könnte wäre, ganz in der Tradition Bartlebys - nichts. Eben auch nicht schreiben. In letzter Konsequenz die eigene Auslöschung, die totale Verweigerung, nicht nur als Konsument*innen, sondern auch als Produkte, die wir geworden sind. Das wäre (neben der Entscheidung, keine Kinder in die Welt zu setzen) auch die einzig wirklich nachhaltige und ökologische Entscheidung, die wir treffen können.

Das zu wissen und gleichzeitig Weihnachtsplätzchen zu backen, sich auf einen schönen Waldspaziergang zu freuen und still und heimlich mit sich selbst darauf anzustossen, dass man zu feige ist für die Selbstauslöschung, ist ganz schön schizophren, aber auch irgendwie mutig.

Ich freue mich schon auf die nächsten Zuschriften – gerne auch mit einer Auflistung all der tollen Jobs, die mir aufgrund meiner öffentlichen Denkerei flöten gegangen sind.

Ein erquickliches neues Jahr wünscht Euch Eure Hobby-Ökonomin und Kolumnistin des Vertrauens,

Iris Boss


(Zuerst erschienen am 31.12.2020 bei CulturMag)

Deutscher Kuchen hinterm Mond

Hallo, ich bin Iris aus Berlin, und ich fühle mich wie Rosa Luxemburg. Ich bin zwar nicht in die, sondern aus der Schweiz geflohen, aber ich bin ganz sicher, dass es viele Leute gibt, die mich aufgrund meiner politisch brisanten Kolumne (naja ok, wahrscheinlich eher weil sie mich einfach doof finden, oder weil sie gerade irgendwie mies drauf sind wegen Corona und so), am liebsten in den Landwehrkanal schmeissen würden. Wie Rosa habe ich lange Haare und eine markante Nase, und mein Vorname hat auch vier Buchstaben. Ich war schon viele Male am Rosa-Luxemburg-Platz und habe mich da eigentlich immer nur schlecht gefühlt, weil ich nicht an der Volksbühne engagiert… Nee, ich merke, das wird nichts.

Wahrscheinlich ist mir Rosa nur deshalb eingefallen, weil ich gerade von einem Gastspiel in Luxemburg zurückkomme. Wir haben dort SCHTONK! gespielt. Die wenigen Vorstellungen, die von einer dreimonatigen Tournee übriggeblieben sind – zufällig ein paar Tage bevor auch dort die Theater schließen mussten. Die wenigen Menschen, die die Vorstellungen besuchen durften, lachten hinter ihren Masken über sentimentale Alt-Nazis und die gekonnten Hitler-Parodien. Und zwar – da bin ich mir ziemlich sicher – nicht, weil sie den Nationalsozialismus verharmlosen oder den Diktator mit dem albernen Schnäuzer nicht ernst nehmen – schließlich waren die Ardennen quasi ein Nazi-Hotspot. Im Gegenteil, ich denke, wenn der Adolf einfach nur ein armer psychisch Kranker und ein talentfreier Kunstmaler geblieben wäre, würde es kaum jemandem Spaß machen, über ihn zu lachen. Zumal man ihn dann heute auch überhaupt nicht mehr kennen würde.

Es sei leicht, über Jana aus Kassel zu lachen, lese ich. Ja, das ist es. Aber deswegen muss es nicht falsch sein. Es wäre falsch – und das meint die Kritik am Gelächter wahrscheinlich – wenn man über die Auswüchse (Jana) lachen und dabei die Taktik von AfD und Konsorten (Geschichtsrevisionismus) nicht ernst nehmen würde. Lächerlichkeit und Monstrosität schließen sich nicht aus. Im Gegenteil, sie scheinen gerne im Doppelpack aufzutreten: Hitler, Trump und der Joker sind nur ein paar wenige der allgemein bekannten Beispiele.

„Humor ist das, was uns daran hindert, aus dem Fenster zu springen.“ Ich glaube George Tabori hat das gesagt. Und wenn ich den Stimmen in meinem Bekanntenkreis und denen in den sozialen Netzwerken glauben darf, sind es im Moment nicht diejenigen, die was von „Ich will mein Leben zurück!“, „Freiheit!“ und „Nieder mit der Corona-Diktatur“ herum krakeelen, die manchmal am liebsten aus dem Fenster springen würden. Obwohl sich in dieser Gruppe auffällig viele Herren im Risikopatienten-Alter finden, legen deren Mitglieder eine erstaunliche, wahrscheinlich nie gekannte Vitalität an den Tag. Es sind „die Guten“ (sag ich jetzt einfach mal so, weil sie so sind wie ich), diejenigen, die begreifen, dass sie nicht Kunden der Gesellschaft, sondern Teil davon sind, diejenigen, die den kategorischen Imperativ, selbst wenn sie googeln müssen, was das ist, zu leben versuchen, diejenigen, die an Menschlichkeit glauben, an die Vernunft, an Gerechtigkeit, Solidarität und eine wirkliche Freiheit, die nur die Freiheit aller sein kann: Diese Menschen sind zunehmend erschöpft und verlieren an Lebenskraft und -freude. Das Lachen über die Bestialität, die sich hinter den Auftritten unzähliger kleiner Gruselclowns verbirgt, könnte uns Kraft geben, uns dem entgegenzustellen.

Lachen ist gefährlich. Nicht umsonst haben die Nazis, haben alle Diktaturen Kabarettisten und Karikaturisten so unerbittlich verfolgt; nicht umsonst galt der furchtbare Anschlag 2015 mit Charlie Hebdo einer Satirezeitschrift. Lachen verbindet und ist seit jeher ein soziales Korrektiv. Wenn die Mehrheit nicht über Menschen lacht, die sich gesellschaftsschädigend verhalten, fehlt es. Und wenn jetzt hier auch nur einer denkt: „Ein solches Denken treibt doch nur die Spaltung voran! Die Boss ist einfach nicht offen für andere Meinungen und Perspektiven“, dann schreie ich! - Es gibt Menschen, Ideologien und Taten, von denen möchte, muss ich mich ganz eindeutig distanzieren, wenn ich noch in den Spiegel sehen will. Ob es sich dabei um Träger*innen von Reichskriegsflaggen oder von Herzchen-Luftballons (mit Kindern als Schutzschild) handelt, ist für mich dabei gar nicht so relevant. Es kommt auf den Kontext an. Und da sind mir Reichskriegsflaggen vielleicht sogar noch ein bisschen lieber, weil ehrlicher. Wenn sich Menschen in einer Gesellschaft rücksichtslos, ignorant und dumm benehmen (ja, auch wenn die Hintermänner und -frauen vielleicht clever sind, die Vordermenschen sind oft himmelschreiend dumm, strunzdoof, hohl und beschränkt – ist so, daran ändert alle Toleranz nichts), könnte das kollektive Gelächter über sie das Kampfgeheul sein für den Angriff auf diejenigen, die die Witzfiguren installiert haben, um tatsächlich unsere freie und demokratische Gesellschaft zu spalten.

Mir ist mein Kriegsjargon bewusst und nicht angenehm. Aber ich habe das Gefühl, dass es um einen Kampf geht, der geführt werden muss, den man nicht wegmeditieren, nicht wegtolerieren kann. Der Kampf um die eigene Haltung wäre das Mindeste und ein Anfang.

Dafür, für meine Haltung einzustehen und meine tiefsten Werte nicht zu verraten, würde ich mich tatsächlich in den Landwehrkanal schmeissen lassen (aber nur, wenn es nicht zu kalt ist) und fühle mich jetzt doch ein bisschen wie Rosa Luxemburg.

Ich wünsche mir ein Gelächter, ein fürchterliches, ohrenbetäubendes Gelächter, das all die grotesken Geisterbahnfiguren zurück in die Dunkelheit der Bedeutungslosigkeit scheucht. Denn die Aufmerksamkeit, die sie gerade bekommen, verdienen sie nicht! Was ich an dieser Sache nämlich wirklich traurig finde, ist, dass man über Jana aus Kassel spricht. Eigentlich müsste man über den namenlosen Ordner sprechen. Er ist für mich ein heldenhaftes Beispiel für gewaltfreien Widerstand und Zivilcourage! Das, liebe Kindergarten-Rebellen, verstehe ich unter „heute schreiben wir Geschichte“.

Ein Funfact zum Thema Humor übrigens noch: Studien belegen, dass Humor vor der Anfälligkeit für Verschwörungstheorien zu schützen scheint. Das hat etwas damit zu tun, dass das Talent für Komik ein sowohl holistisches als auch ein analytisches Weltbild erfordert. Diese Kombination wiederum scheint auch mit einer Neigung zu Depressionen und Suizidalität einherzugehen. Womit wir wieder beim „aus dem Fenster springen“ wären. Und womit ich mich jetzt in einen totalen Widerspruch hineingeschrieben habe: Hindert uns der Humor nun daran aus dem Fenster zu springen oder bringt er uns gerade dazu? Schützt mich der Glaube an Echsenmenschen hinter dem Mond vor Depressionen?

Ich jedenfalls, liebe Freunde vor und hinter dem Mond, werde mich auch im Dezember nicht aus dem Fenster stürzen, und das mit dem Landwehrkanal lassen wir auch, bis die Wassertemperaturen wieder mindestens 25 Grad erreichen. Garantiert ins Wasser fällt hingegen meine Dezember- , sehr wahrscheinlich auch die Januar-Tour. Da ich so überhaupt keine Lust habe, die gewonnene Zeit mit Gedanken über Jana und Co zu verschwenden, sowieso eigentlich keine Lust mehr habe, über irgendwas nachzudenken, erwäge ich, die Quatsch-Denker-Front zu gründen: Einfach den ganzen Tag nur „lalülala“ und so denken. Mit ohne Corona und Politik und alles. Als Schirmherrn könnte ich mir Peter Altmaier vorstellen: Der denkt nicht nur Quatsch, der sagt ihn sogar: „Einkaufen ist eine patriotische Aufgabe.“ Nichts von wegen sich Gedanken machen, dass es nicht wenige Menschen gibt, die nicht wissen, wie sie im Dezember ihre Miete zahlen sollen. Nein, ist doch ganz einfach: Das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden und sich ansonsten nicht so´n Kopp machen. Frei nach dem Motto: „Wenn sie kein Brot haben, sollen sie doch Kuchen essen.“ - Deutschen Kuchen natürlich – Patrioten-Ehrensache!

Ich wünsche Euch schöne „härteste Weihnachten, die die Nachkriegsgenerationen je erlebt haben.“ (Ich höre mitleidiges Seufzen aus den Gräbern der Trümmerfrauen und Kriegskrüppel – die mussten sich immerhin nicht mit Fresskomas und Serien-Binge-Watching rumschlagen.) - Been there, done that. Das kann uns keiner mehr nehmen! Geniesst die Tage in Freiheit! Ja, früher hat man die Zähne zusammengebissen, um die paar Tage Familienhölle über Weihnachten durchzustehen, jetzt ist es plötzlich Ausdruck der Freiheit, sich dieser Hölle ausliefern zu dürfen. - Und dann treffen wir uns im Januar wieder. Also nur digital natürlich, da die Zahlen dank Patrioten-Shopping, exzessivem Oma- und Opa-Knuddeln und dem erhöhten Aerosole-Aufkommen durch das verwandtschaftliche sich Anbrüllen unterm Weihnachtsbaum dann pünktlich zum Jahresende wieder richtig schön hoch sein werden. Und falls Ihr dann doch noch zu positiv drauf sein solltet (und positiv ist ja das neue negativ – höhö): „Querdenken“ kündigt am 31.12. eine bundesweite Demo in Berlin an. Sollte es also zu Silvester tatsächlich kein Feuerwerk am Brandenburger Tor geben, gibt es dort statt Knallkörper wenigstens jede Menge Knallköppe. Und deren Aufmarsch schützt zwar nicht vor dem Virus – im Gegenteil – aber dafür vor peinlich kitschigen „Im neuen Jahr wird alles besser“-Gefühlen. In diesem Sinne,

Eure Hobby-Virologin und Kolumnistin des Vertrauens, Rosa… äääh… Iris Boss

Zuerst erschienen: 1.12.2020 CulturMag

Ich fahre in der brechend vollen S-Bahn zu einem Sprecherjob. Wenigstens die Sprecherei geht noch! Seit gestern weiß ich, dass nach der ausgefallenen November- auch die Dezember- und wahrscheinlich auch die Januar-Tournee ausfällt. Als die Bahn kurz hält, fällt mein Blick auf eine größere Menschenmenge. Schon seltsam, wie schnell es gegangen ist, dass mir Menschenmengen in Berlin auffallen, denke ich.Die Menschen stehen Schlange, jetzt sehe ich es. Obwohl es draußen noch hell ist, überkommt mich bei dem Anblick  Sehnsucht: Sieht so aus, als wäre dort was los! Ein Konzert, eine Vorstellung- Ein bisschen auch wie die Schlange vor dem Berghain. Kein Mundschutz, kein Abstand, eher ein Haufen als eine Schlange. Jetzt sehe ich, dass viele Kinder dabei sind. Vielleicht gibt es ja Ausnahmen fürs Kindertheater? Vielleicht wird ja sogar draußen gespielt? Kurz bevor die Bahn weiterfährt, sehe ich das Schild, das von den vielen Menschen fast verdeckt wird: “Weihnachtsbäume BIO aus Brandenburg”. Ach so, ok, die haben alle eine willkommene Ausrede, um Weihnachten nicht zu ihren Eltern in den Süden fahren zu müssen; aber auch die Aufgabe, sich jetzt selbst um den Weihnachtsbaum für den Nachwuchs zu kümmern. Und weil das alle müssen und alle Angst haben, dass sie keinen mehr kriegen, sind Weihnachtsbäume jetzt eben das neue Klopapier.Nach dem Studio: Auf dem Nachhauseweg komme ich an einem großen Shoppingcenter vorbei. Die Menschen drängeln in Scharen rein und raus, drinnen stehen und gehen sie dicht an dicht. Dagegen war die überfüllte S-Bahn fast schon leer - Black Friday und ein kleiner Vorgeschmack auf das Weihnachtsshopping.“Naja, man setzt eben klare Prioritäten”, denke ich, und verbiete mir mein Selbstmitleid, das bei dieser Erkenntnis und der gleichzeitigen Erinnerung an unserer Vorstellungen mit 80 Menschen mit Mundschutz in einem 800-Plätze-Haus hochkommen will. Und auch die Beschäftigung mit der Frage nach Huhn oder Ei, wenn ich an die Prioritäten, die gesetzt werden denke und die Tatsache, dass das Land der Dichter und Denker mehr und mehr zu einem der (euphemistisch ausgedrückt) schlichten Gemüter wird, verkneife ich mir. Ich weiß, dass mich beide Antworten gleichermassen beelenden würden…

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Streik

Ich habe dieses Mal sehr früh mit dem Schreiben meiner monatlichen CulturMag-Kolumne angefangen, weil ich den ganzen Oktober in Hamburg und Minden mit Proben für das Theaterstück „SCHTONK!“ beschäftigt war. 7 Tage die Woche - unbezahlt, da erst die Vorstellungen bezahlt gewesen wären. Die Vorstellungen einer Tournee, die vom 25.10. bis Weihnachten gedauert hätte.

Ich habe nachts in meinen Hotelzimmern an dem Text gearbeitet und habe ihn auch tatsächlich zu Ende geschrieben. Aber inzwischen ist so viel passiert, dass ich ihn nicht einfach so stehenlassen kann:

Ich hatte großes Glück mit dem Ensemble und dem Team der Produktion. Die Stimmung bei den Proben war so gut, wie das unter den gegebenen Umständen möglich war, und wir alle waren froh und dankbar, endlich wieder Theater machen zu dürfen. Trotzdem war die Anspannung aller Beteiligten spürbar, die Unsicherheit, die dabei entsteht, auf eine Premiere hinzuarbeiten, von der niemand sagen kann, ob sie stattfinden wird. Viel Zeit und Energie musste bei den Proben darauf verwendet werden, die Inszenierung „Corona-kompatibel“ zu gestalten. Und auch hinter der Bühne haben sich alle diszipliniert an die Abstands- und Hygieneregeln gehalten. In einem Beruf, der so körperlich ist wie der unsere, eine schwierige Aufgabe.

Bei den Endproben in Minden habe ich dann mitbekommen, wie viel Aufwand und Sorgfalt das dortige Stadttheater darauf verwendet, ein einwandfreies Hygienekonzept zu bieten. Die Premiere fand vor rund 100 Zuschauern statt – alle mit Mundschutz, auch auf den Plätzen – in dem großen Zuschauerraum musste man richtig nach ihnen suchen, so weit verstreut saßen sie da. Aber der Applaus am Schluss dauerte minutenlang und schien nicht von 200, sondern von 2000 Händen zu kommen.

An dieser Premiere und der anschliessend geplanten Tournee waren selbstverständlich nicht nur wir Schauspieler, der Regisseur, seine Assistentin und eine Dramaturgin beteiligt. Schon lange vor der ersten Probe hat eine Kostümbildnerin Kostüme entworfen und genäht, ein Bühnenbildner hat sich ein Bühnenbild ausgedacht, das für viel Geld in einer Werkstatt von dafür ausgebildeten Menschen gebaut wurde. Es gibt Requisiteure, Maskenbildnerinnen, Ankleiderinnen, Inspizienten, LKW-Fahrer, die das ganze Zeug von Ort zu Ort karren, Bühnenarbeiter, die es aufbauen, Disponenten, die dafür sorgen, dass die ganze Logistik klappt, Menschen, die Hotelzimmer, Flüge und Züge buchen, Tour-Busfahrer, Reiseleiter, Licht- und Tontechniker und viele mehr. Die meisten von ihnen haben eine Familie zu ernähren, und wir alle haben eine Steuernummer und tun unseren Job im besten Fall gern, aber auf jeden Fall, um davon zu leben.

Zwei Tage nach der Premiere sitze ich im völlig überfüllten ICE nach Berlin (so dicht hätte man die Leute im Zuschauerraum nicht einmal setzen können, wenn es voll besetzt gewesen wäre). Jetzt ist klar: kein Theater im November. Ob es im Dezember weitergeht, weiß noch niemand.

Ich habe schon im Sommer vier Monate Festanstellung und drei Inszenierungen durch die Maßnahmen verloren – die einzige Möglichkeit einer finanziellen Unterstützung vonseiten des Staates wäre Hartz 4 gewesen. Aber damals bin ich noch nicht in ein Loch gefallen. Der Gedanke: „Da müssen wir jetzt durch, und zwar gemeinsam!“, war größer. Ich fand die Maßnahmen der Regierung richtig und um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, ich stehe immer noch hinter den Abstands- und Hygieneregeln, auch hinter der Mundschutz-Pflicht. Aber inzwischen weiß man mehr als im Frühling, und dass dieses Wissen nicht angewendet wird, um differenzierte Entscheidungen zu treffen, sondern politischer Aktionismus auf Kosten von Branchen ohne Lobby betrieben wird, macht mich wütend und hilflos. Die Veranstaltungsbranche hat in den letzten Monaten weder Kosten noch Mühen gescheut, vorbildliche Hygienekonzepte zu realisieren. Die Kulturschaffenden (abgesehen von einigen verstrahlten G-Promis) haben immer und immer wieder für Solidarität und verantwortungsvolles Verhalten, letztlich also für die Maßnahmen der Regierung geworben. Und das, obwohl gerade sie diese Maßnahmen besonders hart treffen.

Auf der Großdemonstration der Veranstaltungswirtschaft vom 28.10. in Berlin war Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier ein Rede-Slot eingeräumt. Er hat es noch nicht einmal für nötig empfunden, abzusagen. Der WIRTSCHAFTS-Minister bei der Veranstaltung eines der größten Wirtschaftszweige des Landes. Mit 1,5 Millionen Beschäftigten und 130 Milliarden (!!!) jährlichem Umsatz. Aber was will man von einem Mann erwarten, der von Künstlern abwertend als „jemand, der zu Hause in seinem Kleiderschrank seine Trompete aufbewahrt“ spricht und eine Unterstützung dieser Menschen unnötig findet.

Unfreiwillig trifft Herr Altmaier sogar den Kern der Sache: Wir, die freischaffenden Künstler mit der Trompete im Kleiderschrank, können uns eben schlicht kein Büro für unsere Trompete leisten, weil wir schon immer mehr oder weniger von der Hand in den Mund leben. Es geht auch den meisten von uns tatsächlich nicht ums Kohle machen (wobei: warum soll daran eigentlich ausgerechnet in unserer Branche etwas Verwerfliches sein?) Aber: Es ist verlogen, uns das jetzt vorzuwerfen. Zur Kunst gehören eben nicht nur die Künstler, sondern auch die Rezipienten. Und keine, auch nicht die kultivierteste Gesellschaft, ist so uneigennützig, etwas zu finanzieren, das nur der Selbstverwirklichung von Trompetenspielern dient. Die meisten von uns wurden, finanziert vom Staat und damit von Euren Steuergeldern, ausgebildet. Warum? Um uns unser Hobby zu finanzieren? Ich lebe seit über 20 Jahren davon, dass Menschen Eintrittskarten für meine Stücke und Filme kaufen, sich meine Stimme anhören. Warum? Weil sie Mitleid mit mir haben?

Die meisten von uns wollen gar kein Büro für ihre Trompete. Aber wenn ein Büro die Voraussetzung dafür ist, von unserem Beruf leben zu können, bezahlt uns so, dass wir uns ein Büro leisten können!

Darüber, warum die rigorose Schließung von Theatern, Kinos usw. nicht nur unfair, sondern auch nicht zielführend ist, wurde in den letzten Tagen viel Kluges geschrieben und gesagt. Stellvertretend für viele andere Stimmen möchte ich die klaren Worte des Musikers Till Brönner empfehlen:

https://www.youtube.com/watch?v=n5Ki71muYcQ

Ich bin zum ersten Mal seit Beginn der Pandemie sprachlos und zu erschöpft für geistreiche Worte. Das hat einerseits mit meinem kleinen persönlichen Schicksal zu tun, mit dem Schock der abgesagten Tour, mit der Angst vor meiner beruflichen und finanziellen Zukunft, mit der Hilflosigkeit und Traurigkeit, nichts beitragen zu können, da ich ja nicht auftreten darf.

Noch mehr Angst macht mir jedoch der Geist, besser gesagt der Ungeist, der hinter alldem steht. Aber eben: Ich bin zu müde, das auszuformulieren. Zu müde, zu flatterig im Kopf, zu verunsichert und zu fragmentiert, zu unkonzentriert, zu unkreativ. Es stimmt nämlich ganz einfach nicht, dass Existenzängste kreativ machen. Fuck you, Spitzweg mit deinem bescheuerten armen Poeten! Fuck you! Ich weiß wenig, was unkreativer und unfreier im Denken macht. Wenn zu den Existenzängsten dann noch das Gefühl kommt, man sei nicht nur nicht systemrelevant, sondern in der Gesellschaft, in der man lebt eigentlich unerwünscht, wird es nicht besser.

Das einzige, was ich noch sagen möchte, ist an meine Künstlerkolleg*innen gerichtet: Bitte lasst uns aus dem, was wir die letzten Monate gelernt haben, etwas machen! Sprich: Bitte lasst uns nicht wieder panisch irgendwas aus unseren Wohnzimmern streamen! Machen wir den Slogan „Ohne Kunst und Kultur wird’s still“ erlebbar! Ich verstehe jeden, der mit digitalen Angeboten Geld verdienen kann, aber lasst uns zumindest die kostenlosen Angebote, Lesungen, Konzerte … aus dem Netz nehmen. Lasst uns unsere Energie darauf verwenden, uns untereinander zu vernetzen, zu unterstützen, uns gemeinsam Gedanken darüber zu machen, wie auch wir zu einer starken Lobby und einer unüberhörbaren Stimme kommen!

Amen.

(Zuerst erschienen im CulturMag vom 1.11.20)

Diktatur und Dreck

Wenn ich Diktatorin wäre, hieße meine Diktatur die „Die-da-Diktatur“. Erstens, weil es lustig klingt, und zweitens, um ganz klar zu machen, dass ich nicht „die da oben“ bin. Schließlich soll mir das Volk nicht die Schuld für all sein Unbill in die Schuhe schieben, es soll mich lieben, verehren und lobpreisen – wozu hält man sich denn sonst so ein Volk?

In meiner „Die-da-Diktatur“ wären „Meine eigenen Bedürfnisse ernst, mich selbst nicht so ernst nehmen“, „Ein trefflicher Mitmensch sein“, „Zuhören“ und „Warum ich nicht der Nabel der Welt bin“ Schulfächer. Ausserdem müsste jeder Diktierte (wie nennt man eigentlich die „Untertanen“ einer Diktatur?) täglich einen mindestens einstündigen Spaziergang, allein, ohne Telefon und wenn möglich in der Natur nachweisen. Alle, die mit Regierungs-Entscheidungen betraut wären, mindestens zwei Stunden und ich selbst drei.

Im Moment dürfte man als Diktator tatsächlich ziemlich gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben. (Als Diktatorin müsste man sich wahrscheinlich erstmal mit dem Ressentiment rumschlagen, man sei ja bloß die Quoten-Frau der Diktatoren-Branche, aber das müssen ja beispielsweise Virologinnen in ihrem Metier auch.) Vor allem diejenigen, die am lautesten „Corona-Diktatur“ schreien, versuchen (wahrscheinlich ohne es selbst zu merken) mit aller Kraft, eine solche zu erschaffen. Wie viel Energie muss es kosten, den gesunden Instinkt, der ganz einfach darin besteht, uns selbst und unsere Artgenossen so gut wie möglich vor Ansteckung zu schützen, zu unterdrücken? Wer sich so unmündig verhält, macht sich selbst zum geborenen Untertanen.

Nur mal so als Gedankenspiel: Was würde passieren, wenn die Bundesregierung das Tragen von Schutzmasken im öffentlichen Raum verböte? Weil es gegen das Vermummungsverbot verstösst oder was weiß ich… Dagegen würde auch ich protestieren. Aber bevor ich auch nur „Piep“ gesagt hätte, würden die Maskenverweigerer von heute bereits als „Masken-Rebellen“ durch die Strassen ziehen - „Recht auf Maske!“ und „Maske tut not, sonst droht der Tod!“ skandierend, so laut es die illegal getragenen Masken zulassen.

Ich bin nicht nur für zivilen Ungehorsam, ich halte ihn sogar für unverzichtbar in einer Demokratie. Aber er setzt Mündigkeit und Selbstverantwortung voraus. Ich bin sehr dafür, die Entscheidungen der Machthabenden zu hinterfragen, aber das setzt das Bewusstsein voraus, dass in einer Demokratie auch jede und jeder von uns zu den Machthabenden gehört.

Welche Optionen gibt es in einer Gesellschaft mit Menschen umzugehen, die nicht dazu bereit sind, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen und Rücksicht auf ihre Mitmenschen zu nehmen? Mit Leuten, die auf dem vermeidlichen Recht bestehen, ihren Egos freien Lauf zu lassen und gleichzeitig von „denen da oben“ erwarten, dass sie sie vor den Egos der anderen schützen und sie gegen die (finanziellen) Folgen der Pandemie so sehr absichern, wie es ein funktionierender Sozialstaat nur kann? - Ein Sozialstaat, bestehend aus Egoisten? Eine Anarchie mit perfekt funktionierendem sozialem Netz? Aber wer sorgt dann dafür, dass der Mitmensch, der mir auf den Kopf gehauen hat, eine Strafe kriegt und das in Zukunft unterlässt? Und wie sorge ich dafür, dass ich, und nur ich, keine Konsequenzen zu befürchten habe, wenn ich (weil das eben nun einmal zur freien Entfaltung meiner Persönlichkeit gehört) meinem Mitmenschen auf den Kopf haue? Da muss dann wirklich eine Diktatur her. Und zwar eine, in der ich diktiere. Und genau das steckt hinter dem Diktatur-Geschrei: Keine friedliebenden Freigeister, sondern gekränkte Möchtegern-Diktatoren ohne Reich.

Wenn ich es mir so recht überlege, ist Diktator unter diesen Bedingungen ein ziemlich undankbarer Job. Man könnte es ja doch keinem recht machen. Abgesehen davon wäre ich eine denkbar ungeeignete Diktatorin. Schon die Erziehung eines Hundes würde mir zu viel Autorität abverlangen. Noch mehr Probleme als damit, mir sagen zu lassen, was ich zu tun habe (und damit habe ich keine geringen Probleme), habe ich damit, einem anderen Wesen auch nur die kleinsten Anweisungen zu geben. Das macht mir ganz einfach keinen Spaß!

Aber auch sonst war ich nie weiter davon entfernt, das Heft in die Hand zu nehmen und die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Die letzten Monate haben mich zwar mir selbst näher gebracht, mich klarer sehen lassen, was ich will und was ich nicht (mehr) will, wer ich jenseits von beruflichen Erfolgen und „ich müsste“, „ich sollte“, „hätte ich mal“ bin. Dafür ist meine Verwirrung, die Unklarheit und Unsicherheit, was die Geschehnisse in der Welt um mich betrifft, gewachsen. Sogar noch mehr, seit im Herbst wieder eine gewisse äußere „Normalität“, zumindest was meinen Arbeitsalltag betrifft, Einzug erhalten hat.

Seit Anfang Oktober bin ich endlich wieder „on the road“ (klingt irgendwie cooler als „auf der Strasse“). Eine Theatertournee die theoretisch durch Deutschland, die Schweiz und Luxemburg führen soll und die theoretisch bis Weihnachten dauern soll. Noch proben wir auf eine Premiere hin, von der niemand weiß, ob sie stattfinden wird.

An einem Abend in meinem Hotelzimmer in Hamburg, lese ich die neusten Nachrichten: Sperrstunde in Berlin, Beherbergungsverbote… Zum ersten Mal seit Beginn der Pandemie ist der Gedanke, dass das vielleicht nicht mehr weg geht, kein rein hypothetischer mehr. Die Vorstellung, dass das keine schwere Zeit ist, durch die wir durch müssen, sondern der Beginn einer neuen Zeit, ist auf einmal so konkret, dass mich ihre Schwere auf das Hamburger Hotelbett drückt. Ich habe keine Ahnung, warum das ausgerechnet jetzt passiert.

Ich habe seit zwei Wochen keinen anderen Menschen mehr berührt. Die Hygienevorschriften sind streng: Auch auf der Bühne muss der Mindestabstand eingehalten werden. Ich staune, wie sehr ich in all den Jahren tatsächlich gelernt habe, meinen Impulsen auf der Bühne unzensiert zu folgen. Mehr als einmal muss der Regisseur die Probe unterbrechen, weil ich Kollegen auf der Bühne zu nahe komme. Auch hinter der Bühne wird auf Körperkontakt verzichtet. Habe ich jemals mit einem neuen Regisseur gearbeitet, ohne ihm beim Erstkontakt die Hand zu geben? Wie werde ich die lange Zeit (wenn es denn tatsächlich dazu kommt) überstehen, ohne Umarmungen, ein kurzes Berühren an der Schulter unter Kollegen? Schon jetzt, nach zwei Wochen, fällt mir das sehr schwer. Ich freue mich wie ein Kind auf Weihnachten auf die ersten Masken-Proben. Absurderweise wird die Maskenbildnerin, die Person, die die Maske in ihrer Berufsbezeichnung trägt, die einzige sein, die mich berühren darf – wenn auch selbstverständlich nur mit Maske.

Ich stelle mir gerade vor, dass wir Schauspieler in der Gesellschaft der Zukunft die „Kaste der Unberührbaren“ sind: Da alle anderen Menschen Abstand voneinander halten müssen, die Regierung aber erkannt hat, dass die Menschen es brauchen, zwischenmenschliche Aktionen wenigstens zu sehen, dürfen wir uns vor der Kamera oder auf der Bühne berühren, zahlen aber mit einem Privatleben in totaler Isolation. Doch wahrscheinlich ist das kein futuristischer sondern ein gnadenlos nostalgischer Traum. Es wäre einfacher, billiger und vor allem hygienischer, uns durch computeranimierte 3 D- Modelle zu ersetzen.

Neben Berührungen sehne ich mich am meisten nach Dreck: Nach durchgetanzten Nächten zwischen mir unbekannten, schwitzenden Körpern, nach lauten, verrauchten Kneipen, nach Konzerten, bei denen man jeden zweiten Menschen umarmt und einige küsst. Ich sehne mich danach, schmerzlich zuweilen, und weiß trotzdem, dass es gut ist, dass das im Moment nicht geht. Ich versuche mich auf das Stück und die Proben zu konzentrieren – auch wenn das manchmal schwerfällt, wenn man nicht weiß, ob man überhaupt spielen wird. Und ich mache jeden Tag einen langen Spaziergang auf dem ich – wenn keiner hinsieht – Bäume umarme und mich darin übe, meine Bedürfnisse ernster und mich selbst weniger ernst zu nehmen.

(Zuerst erschienen im CulturMag vom 1.11.20)