Nabokov und das Glück.
Ich habe so etwas noch nie gelesen und kann auch nach der Lektüre dieses Buches immer noch nicht sagen, was es genau ist. Es ist auf alle Fälle kein Roman, aber auch kein Sachbuch. Es hat etwas von einem literaturwissenschaftlichen Essay, hier und da meint man, eine in sich geschlossene Kurzgeschichte erkannt zu haben. Dann wieder kommt es einem vor wie Tagebucheinträge, ja wie ein Blog, mit unterschiedlichen Rubriken und Menüpunkten, die aber für die analoge Printversion entfernt wurden, wodurch die einzelnen Beiträge einfach kunterbunt hintereinander weggedruckt wurden. Aber egal, was es auch immer ist oder auch nicht ist – es ist gut.
Alleine schon die Grundidee ist phänomenal. Die Autorin Lila Azam Zanganeh schreibt über sich als Leserin, Leserin eines Autors, der wenige Monate nach ihrer Geburt bereits gestorben ist: Vladimir Nabokov. Wir lesen was sie von ihm liest, wie sie liest und was sie sich dazu denkt. Indem sie uns an ihrem Lesen teilhaben lässt, wird auch für uns Leser ihr Lieblingsautor Nabokov wieder lebendig. Und nicht nur das – auch sein Sohn, seine Frau, seine Romanfiguren, die Romansettings und die Lebensstationen des russischen Autors tauchen vor unserem inneren Auge auf, durchmischen sich mit dem Leben der Autorin, Nabokovs und verwischen dabei die Grenzen. Stellenweise weiß man nicht, ob man sich gerade in einer Romanszene des Skandalbuches Lolita oder im Berliner Exil befindet, wohin Nabokov nach der Oktoberrevolution geflohen ist.
Das alles ist literarisch unheimlich reizvoll komponiert, aber gleichzeitig auch total rätselhaft und verworren. Ich musste immer wieder zurückblättern, habe Passagen noch einmal gelesen und versucht, mich irgendwie in diesem Werk zu orientieren. Ganz zum Schluss habe ich ein ausführliches Quellenverzeichnis gefunden – aber da war es leider schon zu spät für meine Fragen. Trotzdem hat mich das in der Vermutung bestärkt, dass der Zauberer eigentlich mal als eine literaturwissenschaftliche Arbeit geplant war.
Aber von einem wissenschaftlichen Anspruch hat sich die Autorin ziemlich schnell wieder verabschiedet. Denn logisch, rational und wissenschaftlich ist dieses Buch beileibe nicht. Beim Blättern ist mir auch der Klappentext von Ilja Trojanow wieder aufgefallen, den ich vor dem Einstieg in die Lektüre schon gelesen, aber nicht besonders beachtet hatte. „Alle…waren sich einig, dass wir ein Werk gelesen hatten, dass so sehr verwirrt und verzaubert, provoziert und bestätigt, das einen Weg weist, von dem wir alle etwas ahnen, den wir aber selten betreten.“
Und obwohl ich von Trojanow als Autor nicht viel halte, hier hat er vollkommen recht. So einen Weg habe ich als Leser in der Tat noch nie betreten. Ich gebe zu, ich fühle mich auf diesem Pfad etwas unsicher, weiß nicht so recht, wie ich meine Schritte zu setzen habe. Normalerweise schreibe ich meine Rezensionen relativ schnell, weiß nach kurzem Nachdenken meistens ganz genau, was ich schreiben will. Aber bei diesem Buch war ich erst einmal ratlos. Ich wüsste auch nicht , ob und wem ich dieses Buch empfehlen sollte. Denn es ist nicht einfach. Die ersten Kapitel sind noch klar strukturiert. Wir begegnen dem Autor und dem Menschen Nabokov und erleben seine Entwicklung als Schriftsteller, verlassen mit ihm Russland, gehen mit ihm nach Berlin, in die USA und schließlich in die Schweiz auf Schmetterlingsjagd.
Dann wird es zusehends verworren und sonderlich. Die Autorin assoziiert und lässt sich gedanklich treiben, die Ebenen vermischen sich und man muss wie im dichten Nebel seinen Weg suchen. Das hat Längen, das ist bestimmt auch nicht jedermanns Sache, aber der Nebel lichtet sich kapitelweise auch wieder, so dass man sich zehn, zwanzig Seiten weiter wieder orientieren kann.
Das ganze Buch würde nicht funktionieren, wenn es sprachlich die Stimmung nicht tragen würde. Es ist von Susann Urban aus dem Englischen übersetzt und bewegt sich auf einem hohen literarischen Niveau. Wird heiter und leicht, wenn es auf Schmetterlingsjagd geht, melancholisch, getragen und geheimnisvoll, je mehr sich die Handlungsebenen durchmischen.
So ein richtiges Fazit kann ich bei diesem Buch nicht ziehen. Ich habe es zwischen den Jahren gelesen, hatte Ruhe, konnte mich darauf einlassen, drüber nachdenken. Darüber hinaus habe ich als leidenschaftlicher Leser eine Grundsympathie für alle, die leidenschaftlich gerne lesen. Es macht mich glücklich, Menschen zu begegnen, die ihr Glück zwischen zwei Buchdeckeln gefunden haben. Und da dies in der Literatur meistens unglaublich kitschig rüberkommt, hier aber nicht, hat mich das Lesen dieses Buches phasenweise auch sehr glücklich gemacht
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Titelfoto: Gabriele Luger
Verlag: Edition Büchergilde
220 Seiten, 22,95 €
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Eine weitere Rezension findet man auch auf Ilja Regiers Blog Muromez.
Hier auch ein sehr empfehlenswertes Video. Die Autorin über das Glück zu lesen und ihre Liebe zum Werk von Nabokov.
Das Buch steht ganz oben auf meiner Wunschliste 🙂 Bin sehr gespannt darauf. Du hast mir noch mehr Lust darauf gemacht als ich ohnehin schon hatte …
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So soll es sein. Könnte aber auch eine Monats-Challenge werden. Bin gespannt, wie Du und andere das empfinden.
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Hab deine Rezension mit meiner (https://muromez.wordpress.com/2015/10/04/lila-azam-zanganeh-der-zauberer/) verglichen. Im Grunde stimmen wir überein. Das Buch ist außergewöhnlich und ‚außergewöhnlich‘ ist schon mal per se interessant, wenn nicht auf Trends aufgesprungen werden will, stilistisch sich unbekanntere Ebenen auftun.
Das ist hier gerade die Stärke. Dieses Spiel mit der Fiktion und Realität. Ist sie Nabokovs Sohn tatsächlich begegnet, usw. Was macht ihren Liebling aus, warum gerade er und was bewirkt dieser bei ihr? Und wer ist eigentlich ’sie‘, die das alles schreibt?
Die wissenschaftlichen Passagen, die ich auch mehr Essays zuordne, haben mich dagegen mehr gestört. Gerade im vergangenen Jahr habe ich mich ausführlicher mit Nabokov beschäftigt, kenne folglich seinen Lebensweg – das war für mich alles nichts Neues. Wer Nabokov aber nicht kennt oder vergessen hat, könnte vielleicht (wieder) auf ihn stoßen – umso besser die-/derjenige wird es nicht bereuen …
Letzten Endes überwiegen die positiven Eindrücke!
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