Bloggertalk zu Bodo Kirchhoffs ‚Widerfahrnis‘

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Unter den Buchpreisbloggern wird viel gestritten. Natürlich nur um Literatur. Zu Bodo Kirchhofs neuestem Buch „Widerfahrnis“ habe ich mit meiner Bloggerkollegin Jacqueline (masuko13) zahlreiche Mails ausgetauscht. Beide mögen wir Kirchhoff sehr. Doch während Jacqueline diese Novelle als berührende Ü40 Liebesgeschichte sieht, empfinde ich es als Altherrenprosa. Sie meint, dass Kirchhoff es damit auf die Shortlist schaffen könnte, ich glaube das eher nicht. Aus dem Mailwechsel ist dieser Bloggertalk entstanden. 

Tobias: Das ist jetzt schon der fünfte Roman, den ich von Kirchhoff lese. Und in jedem der Bücher ging es um eine komplizierte Liebe älterer Herrschaften, bei der die Protagonisten regelmäßig im Auto über den Brenner nach Italien fahren, sich in irgendeinem romantischen Hotel lieben und anschließend entweder zusammenkommen oder wieder auseinandergehen. Das ist so ein typisches Kirchhoff-Schema. Fast würde ich sagen, er schreibt seit Jahren nur Variationen des immer gleichen Romans.

Jacqueline: Das kann ich nicht bestätigen, da ich bis auf „Die Liebe in groben Zügen“ nichts kenne von ihm. Aber wenn das so ist, dann mag ich sein Thema in allen möglichen Variationen wirklich sehr.

Tobias: Ich mag das ja eigentlich auch. Finde es gut, wenn sich Autoren treu bleiben und nicht meinen, sich ständig neu erfinden zu müssen. Aber Kirchhoff könnte für meinen Geschmack jetzt mal was Neues bringen. Überhaupt finde ich „Widerfahrnis“, wie ich schon in meiner Rezension geschrieben habe, insgesamt ein wenig altmodisch. Das ist fast schon Altherrenprosa. Was sagst du als Frau dazu?

Jacqueline: Sehe ich gar nicht so. Unter „Altherren-Roman“ verstehe ich eher die übertriebenen Phantasien älterer Autoren – alter Mann liebt junge Frau und umgekehrt. Kirchhoff erzählt eine Liebesgeschichte zweier Menschen jenseits der 50. Weder ist Reither uralt, noch Leonie Palm sehr jung. Ich konnte mich gut in der Figur der Leonie wiederfinden, mochte aber auch Reither sehr. Ein ewig jung Gebliebener. Mit seiner ollen Lederjacke beispielsweise, die er schon getragen hat, als es noch kein Internet gab. Und es gehört doch auch jede Menge Spontanität und Mut dazu, einfach Richtung Italien loszufahren. Alles hinter sich zu lassen! Für mich ist das endlich mal wieder eine Liebesgeschichte für Leser jenseits der 20 oder 30 Jahre. Er beschreibt Gefühle und Menschen wie kein anderer.

Tobias: Ja, Kirchhoff ist und bleibt ein großer Meister in der Darstellung des Zwischenmenschlichen, das macht er gut, facettenreich und voller Empathie. Aber trotzdem, jemand der immer noch seine olle Lederjacke aus den Achtzigern trägt und sich damit ewig jung geblieben fühlt, ist meist das genaue Gegenteil davon. In meinen Augen gibt es nichts, was einen älter macht, als solch verstaubte Relikte. Aber das ist Ansichtssache. 

Ich glaube ja, dass all das Unzeitgemäße in diesem Roman – das Kettenrauchen, die Musikkasetten, Bücher, Hüte, Lederjacken – ganz bewusst zusammengetragen wurden, weil sie für den Abschied der Generation Kirchhoff stehen. Für mich schwingt da jede Menge Wehmut mit, das ist ok, aber so entsteht nun mal der Eindruck von Altherrenprosa. Auch sprachlich ist der Roman ein wenig aus der Zeit gefallen. Ich finde den Erzählstil ein wenig zu aufgesetzt und gekünstelt.

Jacqueline: Kirchhoff hat einen besonderen Erzählton, den man so schnell nicht wiederfindet. Gekünstelt finde ich ihn nicht. Ich mag diesen Ton. Als du noch am Anfang des Romans warst, meintest du bereits, er sei dir zu virtuos. Aber ist nicht genau das Virtuose das, was einen Kirchhoff auszeichnet? Wie geht es dir denn mit dem Titel? Widerfahrnis ist ja ein Wort, dass im Duden gar nicht existiert.

Tobias: Ich mag Kirchhoffs virtuosen Erzählstil eigentlich sehr. Aber in diesem Buch hat er es für meinen Geschmack übertrieben, eine Schleife, eine Girlande zu viel gezogen. Das wirkt auf mich zu gewollt, zu virtuos, zu konstruiert. Ich kann mir nicht vorstellen, dass junge Leser etwas mit Bodo Kirchhoff anfangen können, alleine schon aufgrund des altmodischen Begriffs Widerfahrnis. Was für Leute fragen denn nach Bodo Kirchhoff-Büchern bei Dussmann?

Jacqueline: Interessante Frage! Leser, die sich für Kirchhoff interessieren, sind wohl eher aus der Gruppe 40+. Kirchhoff-Leser sind außerdem anspruchsvoll und intellektuell. Ich empfehle immer gern „Die Liebe in groben Zügen“, wenn ein inhaltlich und sprachlich guter Liebesroman für nicht mehr ganz junge Leser gesucht wird. Ich denke, dass sich junge Leser mehr für Bücher interessieren, die sie direkt etwas angehen. Beispielsweise die Romane von Benedict Wells.

Tobias: Jetzt hat Kirchhoff in diesem Buch ein brandaktuelles Thema eingebaut. Findest du die Flüchtlingsthematik schlüssig und passend oder aufgesetzt?

Jacqueline: Aufgesetzt finde ich sie nicht. Mich hat sie aber tatsächlich ein wenig überrascht. Anfangs sind es ja nur dunkle Schemen am Rande. Dann werden daraus reale Figuren, welche Reither und Leonie in die Realität zurück katapultieren. Nein, ich finde, das passt ganz gut. Vielleicht kann man heute nicht mehr einfach losfahren, ohne mit solchen Schicksalen konfrontiert zu werden. Und deshalb gehören sie auch in die Welt der Literatur und der Liebesgeschichten.

Was mich beim Lesen leider gestört hat, war, dass er den Figuren der Geschichte manchmal so seltsame Bezeichnungen gibt. Also, wenn dann aus Leonie Palm die Beifahrerin und aus dem Flüchtlingsmädchen die Stumme mit Hut wird. Oder Taylor, der Mann aus Nigeria, ist plötzlich der angelernte Beifahrer. Das fand ich dann doch ein wenig gekünstelt. Hat dich das auch gestört?

Tobias: Nein, das hat mich eigentlich nicht gestört. Trotzdem, mein Urteil steht. Ich finde, das hier ist nicht Kirchhoffs bestes Werk. Wenn er für sein Meisterwerk „Liebe in groben Zügen“ schon den Buchpreis nicht bekommen hat, dann sollte er es mit „Widerfahrnis“ auch nicht schaffen. Zumal ich jetzt schon Thomas Melles „Die Welt im Rücken“ eindeutig stärker finde. Glaubst du, dass Kirchhoff Chancen auf die Shortlist oder sogar den Buchpreis hat?

Jacqueline: Um darauf zu antworten, muss ich wirklich noch ein paar mehr Bücher der Nominierten lesen. Mir gefiel bisher „Fremde Seele, dunkler Wald“ von Kaiser-Mühlecker sehr gut. Ich bin wahnsinnig gespannt auf Falkners „Apollokalypse“, auf Winklers „Hool“ auf Goma, Lewitscharoff, … auf Melle auch! Ja, aber auf die Shortlist könnte es „Widerfahrnis“ schaffen, das ist durchaus realistisch. Was denkst du?

Tobias: Obwohl ich ein großer Bodo Kirchhoff-Fan bin – ich glaube die Shortlist wird er mit diesem Werk nicht schaffen. Aber der Deutsche Buchpreis ist ja bekanntermaßen unberechenbar.

 

Hier der Link zu Jacquelines Rezension auf Ihrem Literaturblag masuko13. Auch Buchpreisblogger Gérard hat Widerfahrnis gelesen und auf seinem Blog besprochen.

 

 

 

2 Antworten auf „Bloggertalk zu Bodo Kirchhoffs ‚Widerfahrnis‘

  1. Ich hab ja schon geschrieben, daß mir das Buch ein bißchen zu konstruiert und zu aufgesetzt war, da setzt sich einer, der weiß, daß er gut schreiben kann hin und führt, die Leser ein bißchen an der Nase herum, das mit der „Altherrenprosa“ stimmt wahrscheinlich, obwohl ich persönlich es nicht so nennen würde und da ich außer dem „Schundroman“ noch nichts gelesen habe, kann ich nicht beurteilen, ob es das beste Buch ist.
    Sehr beeindruckt hat mich die Szene in dem Restaurant, wo der Wirt sie bestellen und bezahlen läßt und dann die Polizei holt und ob es auf die Shortlist kommt?
    Da bin ich auch sehr neugierig, habe aber Lewitscharoff und Konsorten, die wahrscheinlich auch große Chancen haben, noch nicht gelesen.
    Ein spannendes Leseerlebnis war es aber, glaube ich, schon und die kontroverse Diskussion an der ich mich ja auch beteiligt habe, hat mich auch sehr bereichert.
    https://literaturgefluester.wordpress.com/2016/09/09/widerfahrnis/

    Liken

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