Maya Angelou: Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt [Rezension]

 

Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt

Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt

Maya Angelou


TW: Rassismus, Homophobie, sexuelle Gewalt


Das Team von 54books hat für das Jahr 2019 einen Lesekreis gegründet, für den jeden Monat ein Teammitglied ein Buch aussucht, das dann im Kollektiv gelesen wird. Updates werden dann via Twitter mitgeteilt, aber auch in Privatchats geht die Diskussion heiß her.

Das Projekt startete vor wenigen Tagen offiziell und ist bereits erfolgreich. Maya Angelous Biografie Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt (engl. I Know Why the Caged Bird sings) ist das Januarbuch. Updates zum Projekt gibt es über den Twitteraccount @54reads und die Hashtags #54reads und #54readsMA.


Nun aber zu meiner Rückbesprechung. Denn genau das ist dieser Artikel. Auch wenn es noch früh im Monat ist, muss ich ein bisschen was zum Buch loswerden.

Für den Lesekreis las ich die 2018 bei Suhrkamp erschienene Neuauflage von Angelous Buch, die von Harry Oberländer übersetzt wurde.


Die Zusammenfassung von Suhrkamp:

Die Ikone der afroamerikanischen Literatur, ihr epochemachendes Werk: Maya Angelou wächst in den Dreißigerjahren im Kramerladen ihrer Großmutter am Rande einer Baumwollplantage auf. Für sie und ihren Bruder ein Ort des Zaubers und des Spiels inmitten einer schwarzen Gemeinde, die der Hass und die Armut auszulöschen droht …


Bereits zu Beginn des Buches ist die Stimmung bedrückend. Armut und Segregation schwingen drohend in jedem Wort mit.

In der Zeit der Baumwollernte enthüllten die frühen Abendstunden die Bitterkeit des schwarzen Lebens im Süden.

Es wird zu keinem Zeitpunkt ein Blatt vor den Mund genommen. „Kann sein, dass ein paar von den Jungs später mal vorbeikommen“ löst panische Angst bei der Erzählerin aus. Der KKK. Mir wird schlecht, wenn ich es nur lese, es zu erleben möchte ich mir gar nicht erst vorstellen.

Dann plätschert die Geschichte vor sich hin. Das schwarze Leben im Süden wird mit klarer und zu Teilen fast verklärter Stimme abgebildet. Verklärt nicht, weil es beschönigt wird, sondern eher, weil man die Melancholie, die hinter den Seiten liegt, spürt. Sehr zu meinem eigenen Missfallen musste ich feststellen, dass ich begann, es als blanke Kindheitsmemoiren zu lesen. Als rein biografischen Text, als historische Quelle. Mein Blick wurde mit jeder Beschreibung eines Südstaaten-Details oder einer Erinnerung, die spezifisch auf das Leben in einer afroamerikanischen ‚Siedlung‘ anspielt, zunehmend exotisierender.

Ich las Angelous Schreiben über den Süden und ihre Kindheit als einzigen langen Jazz-Song, der zu Teilen in einen traurigen Blues überging. Vielleicht auch, weil ich heute so von der Musik aus dieser Zeit beeinflusst bin und die Geschichten der Menschen fast nur aus eben solchen Liedern kenne. Vielleicht, weil ich mich davor wehrte zu realisieren, wie schlimm es tatsächlich war.

Und dann kam das Kapitel, dass mich wachrüttelte. Und schockierte. Und bis zu diesem Moment nicht loslassen will. Mein verklärter, historischer Blick auf den schwarzen Süden wurde brutal aus den Zeilen gerissen und zurück blieb fremder Schmerz. Angelou beschreibt den Missbrauch, den sie als Kind erlitt, so genau und doch distanziert. Man liest in den Zeilen die Angst, die sie als 8-Jährige fühlte ebenso wie den Schmerz, den sie als erwachsene Frau beim Schreiben erlitt, als sie sich zwang diese Erinnerung festzuhalten.


Ich glaubte, ich sei gestorben. Ich wachte in einer Welt auf, wo alle Wände weiß waren, das musste der Himmel sein. Aber da war Mr Freeman und wusch mich.


Bei all dem behält sie ihren Stolz und trägt ihn vor sich her, wie als Kind die Schuld. Lange zieht es sich durch den Text, dass sie Mitleid für den Mann, Mr. Freemann, empfand. Man fragt sich – ich frage mich, ob sie wohl jemals aufhörte, so zu denken.

Nach dieser Szene ist alles irgendwie nur noch Nachspiel. Man liest die Heilung einer jungen Frau, ihre Erziehung, ihr Leben. Wie sie von ihren Eltern zu anderen Verwandten zieht, eine Ausbildung beginnt und nach ihrem ersten Schulabschluss erneut umsiedelt. Diesmal für immer. Als Leser*in erfährt man Details so persönlich, wie man sie man sonst nur aus eigenen Erinnerungen kennt.

Angelou bildet sich, wird gefördert, erfährt Grauen und Gutes gleichermaßen. Auch wenn einem als Leser*in das Schlechte besonders mitnimmt, weil sie in fast gleichgültigem Ton erzählt, was für uns heute unerhört erscheint.

Was hängen geblieben ist.

Eine der Erinnerungen Angelous bleibt besonders an mir haften: die der Namensänderung. Etwas, was heute noch gemacht wird, wenn ein Name dem deutschen Amt zu anstrengend oder kompliziert oder ‚ethnisch‘ ist. Für Angelou ist nicht das der Grund, warum sie ihren Namen verliert. Eine weiße Frau benennt sie um. Einfach so, weil es ihr besser passt und der Name kürzer ist. Sie macht aus der Erzählerin im Buch ein Ding, einen Gegenstand, über den sie frei verfügen kann. So wie sie es mit ihren anderen Bediensteten machte.


Eine davon relativiert dieses Vorgehen:

Sie hielt mir die Tür auf. „(…) Ich war damals nicht viel älter als du. Mein Name war Halleluja. So nannte mich Mutter, aber meine Herrin gab mir den Namen Glory, und dabei ist es geblieben. Er gefällt mir auch besser.“ Ich war schon auf dem kleinen Pfad hinter dem Haus, als Miss Glory mir nachrief: „Außerdem ist er kürzer.“
Ein paar Sekunden lang war mir unklar, ob ich lachen (stell dir vor, du heißt Halleluja) oder weinen sollte (stell dir vor, irgendeine weiße Frau gibt dir aus eigener Machtvollkommenheit einen fremden Namen).


Ein anderes Thema ist die Vorsicht, mit der schwarze Eltern ihre Kinder behandeln. Zum Beispiel die festen Zeiten, wann diese Zuhause sein sollen. Angelou schreibt dies der Angst zu, dass etwas passieren könnte. Eine Angst, die in realen Vorkommnissen bestätigt wird, wenn die Polizei dunkelhäutige Menschen einfach so erschießt, weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Etwas, was ebenfalls heute noch geschieht.


Schwarze Frauen im Süden, die für die Erziehung von Söhnen, Enkeln oder Neffen verantwortlich sind, tragen ihr Herz in der Schlinge. Jedes Abweichen von den Regeln kann der Bote einer schrecklichen Nachricht sein. Das ist der Grund, warum die schwarzen Südstaatler bis zur heutigen Generation zu Amerikas Erzkonservativen gehören.


Auch der Leistungsdruck ist glasklar. Bei einem Boxkampf zwischen einem Schwarzen und einem Weißen kämpfen zwei Systeme miteinander. „Falls Joe verlor, sanken wir hilflos in die Sklaverei zurück.“ So schreibt Angelou. Joe Louis bleibt Weltmeister. „Champion. Ein schwarzer Junge. Der Sohn einer schwarzen Mutter war der stärkste Mann der Welt.“ Was bleibt ist ein bitteres Gefühl, nach der ersten Euphorie. Alle verlassen den Laden, in dem sie zusammen den Kampf schauten und gehen nach Hause, bevor es zu spät wird.


„Für einen schwarzen Mann und seine Familie war es nicht gut, alleine auf einer Landstraße gesehen zu werden, vor allem in der Nacht, in der Joe Louis bewiesen hatte, dass wir das stärkste Volk der Welt waren.“


Später, bei der Abschlussfeier von der Schule, wird auf diese Szene erneut angespielt. Diesmal in einem anderen Kontext. Ein Redner erklärt den Jugendlichen, dass sie Sportler werden können.


Weiße Jugendliche hatten die Chance, Galileos und Madame Curies zu werden, unsere Jungen durften versuchen, Jesse Owens und Joe Louis zu werden, die Mädchen waren ganz aus dem Spiel. (…) [W]ieso hatte ein Schulbürokrat im weißen Himmel von Little Rock das Recht zu bestimmen, dass diese beiden Männer unsere einzigen Helden zu sein hatte?
(…)
Bailey (Angelous Bruder) war offensichtlich zu klein, um je Athlet zu werden. Wer war dieser Engel, der irgendwo auf seinem Landsitz beschlossen hatte, dass mein Bruder, um Rechtsanwalt zu werden, erst die Strafe für seine Hautfarbe bezahlen musste: beim Baumwollpflücken, Maishacken und dem zwanzigjährigen Fernstudium in der Nacht.


All die Dichter*innen und Denker*innen, die ignoriert wurde, weil sie die falsche Hautfarbe hatten, zählen nicht als Vorbild. Schwarze Kinder hatten kaum jemanden, zu dem sie aufschauen konnten. Diese Stelle ist ein Aufruf an uns alle, den Kanon zu brechen, damit so ein Denken nicht weiter wachsen kann.

Erniedrigung, Mexiko und das Ende

Die dauerhafte Erniedrigung von ‚Momma‘, wie Angelou ihre Großmutter nennt, trotz ihrer finanziellen Überlegenheit, geht auf die nächste Generation über. Angelou beschreibt, wie wütend sie diese Behandlung macht und denkt sich Geschichten aus, wie ihre Momma all denen, die sie so behandeln, mächtig die Meinung sagt. Geschichten, in denen sie heimlich den Laden schmeißt und die Mächtige ist.

Ein Verarbeitungsmechanismus, um damit klar zu kommen, dass man zu einem gewissen Punkt machtlos ist.

Und dann kommt irgendwann Mexiko. Die Erzählerin ist bei ihrem Vater zu Besuch, der sie mit nach Mexiko nimmt. Dort hat sie zwar Spaß, wird jedoch auch alleine gelassen und muss mit ihm auf dem Rücksitz schließlich alleine das Auto zurück zur Grenze fahren.

Ihr Selbstbewusstsein baut sich, auch durch solche Einschübe, immer weiter auf. Sie ist sich bewusst, dass sie stark ist. Stärker als Gleichaltrige. Sie traut es sich zu, abzuhauen und einen Monat quasi auf der Straße zu leben. Sie sagt sich selbst immer wieder, dass sie stark ist. Weil niemand sonst es tut.

Zum Ende hin, beginnt die Geschichte mir weniger zu gefallen. Das, was passiert, ist weiterhin spannend. Leider integriert Angelou jedoch zunehmend misogyne, klassizistische und homophobe Kommentare in ihren Text. Sie ist sie ihrer doppelten Unterdrückung als schwarze Frau bewusst, äußert sich jedoch immer wieder abfällig gegenüber anderen Frauen und deren Weiblichkeit. Die hübschen Mädchen werden gegen die schlauen und starken aufgeführt. (Angelou äußert sich am Ende auch über die Schmerzen beim Kinderbekommen und meint, dass es ihr vorkommt, als würde da seitens der Frauen immer übertrieben werden).

Das ist eine sehr unnötige und für mich die Leseerfahrung zerstörende Addition zum Text. Auch stellt sie sich über andere Schwarze, weil sie sich ohne Slang ausdrückt und äußert sich abfällig über die MexikanerInnen, die eben kein „schönes Schulspanisch“ sprechen, wie sie. Es ist ein Anzeichen von Unsicherheit und ganz klar auch ein Überbleibsel der Zeit, in der Angelou aufwuchs und das Buch schrieb. Als erwachsene Frau so unreflektiert über diese Themen zu schreiben, bzw. ihre früheren Erfahrungen nicht zu erklären, ist allerdings etwas, was angesprochen werden muss.

Noch deutlicher wird dieses Problem bei der Homophobie. Angelou beschreibt ihre Gedankenprozesse als Jugendliche, als sie dachte, sie sei lesbisch. Etwas, was sie großflächig mit Intersexualität verwechselte. Als sie sich dann ästhetisch zu einer Frau hingezogen fühlt, reflektiert sie dies zwar aus ihrer mittlerweile erwachsenen Perspektive heraus, der Kasus des Textes bleibt aber: ‚Gott sei Dank bin ich keine Lesbe‘ und ‚ich kann nicht lesbisch sein, weil ich schwanger bin‘.

Dass dem Vater dann jegliche Verantwortung entzogen wird, weil „es keinen Grund gibt, drei Leben zu ruinieren“, ist ein weiterer Punkt, an dem ich stirnrunzelnd vor dem Reader saß und mich gefragt habe, warum es diese komischen Szenen brauchte. Warum auf diese unreflektierte Art, wenn der Rest des Buches doch gegen Bevormundung, Stereotype und die Benachteiligung von Gruppen ausgerichtet ist?

Diese Entwicklung zum Ende hin muss von LeserInnen reflektiert werden. Ob man es nun als ‚historisches‘ Abbild eines problematischen Gedankenguts sehen will oder aktiv kritisiert und sagt, Angelou hätte als erwachsene Frau besser reflektieren sollen, besonders, da das Buch weltweit einen gigantischen Einfluss ausübt(e), muss jede/r mit sich selbst ausmachen.

Rezeption des Lebensgefühls in der Popkultur

Ganz gleich wie befremdlich das Ende für mich auch sein mag, es lässt sich nicht bestreiten, dass Angelous Biografie ein Meisterwerk ist. Es ist eine pointierte und deutliche Darstellung davon, wie es war, zu einer gewissen Zeit in den USA schwarz aufzuwachsen.

Heute finden wir die Erfahrung in der Popkultur widergespiegelt. Filme wie ‚Get Out‘, Lieder wie ‚This is America‘, ‚Daddy Lessons‘ oder ‚Formation‘, Serien wie ‚Roots‘, in der Maya Angelou selbst mitspielte. Sie öffnete mit ihrer Biografie eine Tür, die wir nicht wieder schließen dürfen.

Besieht man sich die Fortschritte, die wir seit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gemacht haben, so ist es leicht, sich auf die Schulter zu klopfen und Rassismus für gelöst zu erklären. Aber wenn es etwas gibt, was aus Angelous Buch mitgenommen werden muss, dann das es nicht so einfach ist. Ein gutes Ereignis oder zwei oder zehn besiegen nicht das System. Es ist der dauerhafte Kampf dagegen, der eine wirkliche Änderung bewirkt.

 

Autor: Michelle Janßen

Michelle Janßen ist eine süddeutsche Bloggerin, Journalistin und Autorin. Sie studiert deutsche Literaturwissenschaft und Geschichte. Auf Büchnerwald bloggt sie medienkritisch über Politik, Geschichte und (online) Medien.

3 Kommentare zu „Maya Angelou: Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt [Rezension]“

  1. Ein spannender Artikel! Ich bin über eine Trigger Warning gestolpert und habe deshalb nicht mitgelesen, aber es war spannend, hier noch einmal einen großen Einblick in das Buch zu bekommen. Ich bin noch unsicher, ob ich es im Wissen der negativen Seiten bei weniger triggerndem Inhalt vielleicht „aus Prinzip“ gelesen hätte – aber erstmal bleibe ich wohl bei Rezensionen und Diskussionen.
    Spannend fand ich auch, dass du parallel zu den Gedanken über das Buch das eigene Leseverhalten reflektiert hast. Das sollten wir alle tun!

    1. Danke dir!! Ich würde dir empfehlen, das Buch zu lesen. Aber vielleicht nicht im Rahmen einer Challenge, sondern wenn du bereit dazu bist und dir genug Zeit dafür eingeplant hast.

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